Manfred Sommer trifft Kant und Hupe.
Zur Einleitung in diesen Schwerpunkt

Petra Gehring (Darmstadt), Christian Grüny (Frankfurt am Main und Darmstadt), Helge Schalk (Bochum)

Mit Stift, Blatt und Kant (2020) hat der Philosoph Manfred Sommer erneut ein womöglich noch ungewöhnlicheres Buch vorgelegt als seine Studien zuvor. Es setzt den Weg fort, der mit Sammeln, ein philosophischer Versuch (1999), Suchen und Finden: lebensweltliche Formen (2002) und vor allem mit Von der Bildfläche: Eine Archäologie der Lineatur (2016) methodologisch mutig gebahnt, erprobt und dann immer weiter beschritten worden ist. Nach dem Bildflächen-Buch[1], einer auf den Spuren Leroi-Gourhans in die Frühzeiten der ikonischen Form des Zeichnens zurückfragenden Studie, setzt Mit Buch, Stift und Kant praxeologisch wie auch philosophisch-systematisch an: Es geht um den zeichnenden Gebrauch von Blatt und Stift, um das wesentliche Verhältnis von beiden und dessen Zusammenspiel mit dem welthaltigen Sinn, der hier immer am Werk ist und zuallererst um die Leiblichkeit, die beidem in gewisser Weise immer selbst schon zukommt: dem Blatt (»Das Blatt Papier steht […] für alles Flächige seiner Art, sei es Pappe oder Papyrus, Wachstafel oder Whiteboard, Display oder was auch immer«[2]) wie auch dem Stift (»alle Geräte, mittels deren einer solchen Fläche etwas aufgetragen oder eingeritzt wird, also Füller, Pinsel, Griffel, Radiernadel und ihresgleichen. Selbst der Finger kann Stift sein.« SBK, S. 17). Beides, Blatt und Stift, sind Instrumente oder eher wohl, in einem weniger zweckfunktionalen Sinne, Elemente unseres Tuns. Wir kultivieren sie als Respondenten oder Mitspieler, das Blatt: vierseitig begrenzt, weiß, so flach, dass es keinen Eigenkörper mehr zu haben scheint, den Stift: spitz, des präzisen Ansatzes, der Herstellung von Punkten und einer ungemein nuancierten Hantierung fähig. Eigentlich kultivieren wir sie sogar als Teile von uns. Wir haben sie dazu hergestellt, uns in einer bestimmten Weise zu Grenzüberschreitungen einzuladen. Sie sind jedenfalls keine Dinge[3] und auch nicht mit dem Zauberwort »Medium« bereits angemessen charakterisiert. Ihre Verwurzelung in den uns vertrauten Formen der Sinnproduktion – ja des Wirklichen – reicht vielmehr tiefer.

Man kann Stift, Blatt und Kant als fast spielerisch in der Art eines Vorlesebuches für Kinder angelegte Einführung in die Phänomenologie lesen, aber ebenso als raffiniert anti-naturalistische Protophysik unserer (mindestens der europäischen) Kulturtechniken schlechthin, und dabei in einem Höchstmaß gelehrt. Kant wird unversehens zum Gewährsmann einer der Bildfläche entwachsenden und keineswegs dreidimensionalen Welt, und auch den üblichen Heidegger erkennt man kaum wieder. Was Stift, Blatt und Kant jedoch auch ist: ein großes Experiment, das sich an die gemeinsamen Nullpunkte herantastet, von denen her gesehen Schreiben, Zeichnen, Lesen, Bildwahrnehmung und synästhetisches Raumempfinden gleichsam noch vorbegrifflich miteinander verbunden sind. Weil nicht nur Leiblichkeit, sondern auch ein Begehren nach Kontur, Figur, nach Abhebung, Kontrast und Helle sowie nach losgelösten, vom Material gleichsam angeleitet emergierenden Möglichkeitsräumen hier Komplizenschaft findet. So ist Stift, Blatt und Kant auch ein Buch über Techniken – im sowohl intellektualtechnischen als auch künstlerischen Sinn.

Die Medienwissenschaft (auch in der Spielart Medienphilosophie) ist einer der vielen wenig genannten Gegenspieler des Buchs. Denn Sommer verweigert sich dem Kollektivsingular »Medium« oder dem Pluraletantum »Medien« konsequent und setzt an deren Stelle feine, immer gewitzte phänomenologische Mikrologien. Eine weitere kritische Gegenstellung bezieht das Buch gegenüber der nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Kulturgeschichte und Semiotik großen Familie von Theorien des Zeichens als einer – wie immer archaischen – Frühform der Schrift. Drittens schlägt Sommer sich auch nicht auf die Seite derer, die das Bild von der Schrift unterscheiden, im Inneren der Schrift das Bild bzw. ikonische Spuren vermuten oder Bildlichkeit dem abstrakteren Zeichen irgendwie vorangehen sehen.

Der Bereich, der Sommer interessiert – und den er zu einem riesigen Feld der Beobachtungen und Fragen zu erweitern versteht – ist ein anderer. Er liegt diesseits der Antinomie von Schrift oder aber Bild, diesseits der Fixierung auf écriture und diesseits des Diskurses über Medien – wenngleich es um das geht, das Schrift, Bild, Zeichen und womöglich noch viel mehr (nämlich unser Denkvermögen) trägt und unauffällig immer schon anleitet – gleichsam aus der habitualisierten und erfahrungsgesättigt variierbaren Praxis heraus. »Graphismus« ist Sommers Titelwort »für eine sichtbare Form, die der Differenz von Schrift und Bild vorausliegt, für eine lineare Figur und den Prozess ihrer Erzeugung; dann aber, weiter ausgestaltet, auch für die stofflich-visuelle Dimension verstehbarer Texte und Bildwerke« (SBK, S. 9) Graphismen reichen also tief in unsere elaboriertesten Kulturtechniken (und Welterfahrungen) hinein. Nicht weniger als eine »Philosophie des Graphismus« nimmt sich Sommer vor diesem Hintergrund vor. Dieser geht es um »Phänomene der Schriftbildlichkeit […] etwa anschauliche Diagramme und choreographisch Notationen, kunstvolle Kalligraphien, gegenstandslose Ornamente und ähnliche Formationen zwischen Schrift und Bild. Aber auch unlesbare Kritzeleien, die weder das eine noch das andere sind, gehören hierher. Und natürlich […] auch die historischen und systematischen Untersuchungen zu dem komplizierten Verhältnis piktographischer, ideographischer und phonographischer Zeichen …« (SBK, S. 10). Die Praxisperspektive, also das Verfertigen von und das Arbeiten mit Graphismen, ist ebenfalls mitgedacht: Le graphisme ist »Inbegriff aller Weisen, auf der Scheib- oder Bildfläche etwas zu gestalten« (SBK, S. 11). Mit anderen Worten: eine Philosophie des Graphismus will sowohl einer Erschließung des Gegenstandsgebietes – der Sache selbst – dienen als auch den verworrenen, in unserer wissenschaftlichen Tradition bereits aufgelaufenen Ordnungsproblemen gerecht werden, welche aus dem Graphismus ein Theorieproblem machen. Der Ausgangspunkt liegt bei dem, was aus Sicht des Phänomenologen diesseits des »Sogs zum Sinn« (SBK, S. 26) zu finden ist. Also etwa beim Festhalten des Blattes durch eine Blatt-Hand, die der Stift-Hand die Arbeit erleichtert, beim Weiß, beim Übergang von Druck zu Abrieb, bei den Tönen, die ein Nachdenken über das Graphische stets vergisst (»Fast immer, wenn Stift und Blatt zusammenkommen, ergibt sich ein Geräusch.« SBK, S. 161). Begriffe wie Ebnung oder optische Beiläufigkeit (im Blick auf das Blatt und die Hände, die darüber hantieren), Blatt-Feld-Deckung oder geliehene Intentionalität (im Blick auf Bilder), interne Flächigkeit (im Blick auf 3D-Druck) und weiteres mehr helfen der phänomenologischen Erschließung. Begriffe wie Rezeptivität, intramanueller Selbstbezug, Re-Internalisierung, Leibstativ und vieles weitere bieten Lösungen für Theoriefragen an.

Ungewöhnlich geht Sommer bei dem allem, nein: er springt ungewöhnlich mit philosophischen Theoriebeständen um. Theorien werden lediglich zum »Leitfaden« ernannt, nämlich ab und an in die Hand genommen und dann wieder weggelegt. Der Autor, der zu uns spricht, experimentiert ganz frei an unser aller Schreibtisch. Dieser wird zum wahrnehmungspsychologischen Labor (»In seiner biplanaren Einheit mit dem Gesichtsfeld gleicht das Blatt Papier einem eng aufliegenden faltenlosen Schleier, der völlig undurchschaubar ist und dennoch mit seinem Weiß eine Ahnung von dem gibt, was er verdeckt«, SBK, S. 143), zum Atelier (»An unserem Musterbleistift hat sich ablesen lassen […]: Mit der ersten Berührung überträgt der Stift ein erstes Graphitstäubchen auf die empfängliche Fläche und fängt zugleich an, ihr eine sacht trichterförmige Vertiefung einzudrücken«, SBK, S. 155) oder sogar zum Tonstudio: Ein handgeschriebener Text ist nicht zuletzt »eine lesbare Partitur, die eine wiederholbare Klangfolge notiert« (»Das handgeschriebene t etwa vertont sich – recht leise natürlich – als ein huui dss und das i eher als ein hui tupp.« SBK, S. 164) Antike oder scholastische Theoriebildung (graphe, lumen …) wird dann im zweiten Zug – angelegentlich, manchmal schmunzelnd – wie nur zur Bestätigung herbeizitiert. Die Philosophiegeschichte schaut dem phänomenologischen Bastler, schaut dem Denker, schaut uns … sagen wir: wohlwollend über die Schulter.

Diese lässige Art der Inanspruchnahme betrifft insbesondere den im Titel genannten Kant. Bei der Transzendentalphilosophie oder vorsichtiger: bei der Freude am einen oder anderen »a priori«, lehnt sich Sommer an, als sei er zufällig an genau diesem Laternenpfahl stehengeblieben, hätte aber auch noch einige Schritte weiter gehen können. Kant muss sich allerlei Ausdeutungen und Tiefenanalysen gefallen lassen, die höchst reizvoll, dabei freilich alles andere als verbindliche Auseinandersetzungen oder Referenzen sind. Auch Heidegger, Husserl und andere werden eben mal beigezogen und dann wieder weggelegt. Sommers Arbeit mit Bezügen wirkt spielerisch, vielleicht sogar: ästhetisch motiviert. Seine eigenen Mikrologien – pfiffig gedacht, dabei betont schlicht gehalten, denn fast meditiert man mit, wenn man den Betrachtungen folgt – schaffen sich ihr Milieu. Wie ein Kunstwerk gestalten sie ihr ganz individuelles inneres Ornament.[4] Sie beziehen sich in erster Linie auf sich selbst.

Vielleicht ist es diese Lockerheit: nicht nur in einem vagen Sinne essayistisch o. ä., sondern von methodischen Üblichkeiten befreit aufgrund einer ans Künstlerische grenzenden Pionierhaltung – und eines unbedingten Primates der Sache –, die uns dazu ermutigt hat, Sommer und sein Buch nun seinerseits mit einem Kontext, und zwar einem künstlerischen, zu verknüpfen.

Dirk Hupe (1960-2021) ist als philosophisch belesener, freilich wortkarger Schöpfer von Arbeiten bekannt geworden, die ebenfalls den Raum diesseits der Text-Bild-Differenz erkunden. … the beastly theory of types … (2014) sowie … the beastly theory of images and signs … (2016) heißen zwei wichtige Kataloge[5], die Hupes Arbeiten in ihrem seriellen Zusammenhang zeigen und auch ein wenig kommentieren. Es gibt keine Theorie, die Hupes künstlerisches Werk zur Sache der Schriftbildlichkeit oder auch eben des Graphismus im Sommer’schen Sinne ins Verhältnis setzen würde.[6] Sehr wohl eignen sich Hupes explorative, einer ausgeprägt »graphischen«, vielleicht sogar »graphistischen« Neugier folgenden Setzungen jedoch dazu, als Aussagen, als Statements mit künstlerischen Mitteln also zu einer mit Sommer kommunizierenden Sache gelesen zu werden. Vielleicht sollte man statt der zum Terminus gewordenen Schriftbildlichkeit von einer Bildschriftlichkeit sprechen, die hier zum Thema wird? Aus unserer Sicht könnte sowohl Sommer, der zur Exemplifizierung seiner Überlegungen neben Kant auch Kandinsky (und den anonymen Schöpfer[7] einer pompeijanischen Sappho) sowie weitere Zeichnungs- und Bildwerke anführt, auf Arbeiten von Hupe zu sprechen gekommen sein. Es hätte aber auch Dirk Hupe, ähnlich lässig, wie Sommer sich hier und da seine Klassiker herbeizitiert, die Überlegungen des Kieler Phänomenologen zu Stift, Blatt und Kant – zum Graphismus also – in seine künstlerische Hand-Schrift und Schrift-Bildlichkeit sowie überhaupt in seine bildkünstlerischen Erkundungsgänge integrieren können.

Denn auch Hupe forscht. Seine Arbeiten senden erkennbar nicht Botschaften aus. Sie verweisen aber auch nicht auf sich selbst (oder gar auf den Künstler). Sie konzentrieren sich auf das, was die Medientheorie Medialität nennen würde, und packen hier ihre vielfach unbequemen, wenn auch zarten und genau ansetzenden Bestecke aus. Was »Medium« war, wird befragt, betastet, zerlegt, in seinen Teilfunktionen erkundet, laufen gelassen, wieder eingefangen und um-konstituiert. Ausgereizt werden die reichhaltigen Mittel eines künstlerischen Tuns, das sowohl im Rücken des Zeichnens als auch des Malens (oder des Druckens) einsetzt, jedoch deutlich ausgreifender – ja ausschweifender – befragt und in Teil-Auskünfte zerlegt werden muss. Natürlich hat die Kunst Mittel, die der Schrift fehlen, vor allem, wenn diese gedruckt ist. Der künstlerisch-handwerkliche Umgang mit gedruckter Schrift verwandelt diese im Kunstwerk gewissermaßen in Handschrift – oder schafft Spuren einer dem Gedruckten händisch (neu) aufgenötigten Bildlichkeit. Diese darstellerische Möglichkeit lenkt den Blick auf die graphische, bildliche, auch haptische Dimension der Schrift.

Die Arbeiten von Hupe illustrieren Sommer nicht. Und Kant illustriert nicht Sommer. Wie erst recht Sommers Buch nichts illustriert. Die jeweiligen Arbeiten unternehmen vielmehr verwandte Anstrengungen in derselben Sache. Und sie führen Erstbegehungen durch. Sie weisen auf, sie zeigen, sie tun, liefern also nicht Belege, sondern dokumentieren Gefundenes in der Art von Entdeckern – so jedenfalls die Intuition der Herausgeber dieses Schwerpunkts. Ganz sicher würde sich Hupe ungern in ein theoriegeschichtliches Unternehmen einbezogen finden. Auch den Ausdruck »Graphismus« hat er nicht besonders gern oder irgendwie herausgehoben genutzt. Ebenso würde Sommer zu Recht es sich sicher vorbehalten, zu prüfen, ob und wie er mit seinen Überlegungen (auch) an von Hupe gezeichneten Arbeiten anknüpfen kann. Der Name Hupe dürfte ihm nichts sagen. Die Herausgeber dieses Schwerpunkts wiederum möchten dennoch eine Probe auf einen Dialog der Ansätze wagen. Nicht weil hier sozusagen heimlich von derselben Sache die Rede wäre. Sondern weil das, was Sommer zum Thema macht, sozusagen auf der Gegenseite auch diejenigen bewegt, die den Graphismus gleichsam als solchen und gerade nicht mit begrifflichen Mitteln zum Sprechen bringen wollen (und können). Reflexion hat ihren Ort (und stabilisiert ihre Bögen) nicht nur in der Sprache oder in Texten im engeren Sinn: Wenn das nicht eine phänomenologische Einsicht ist?!

Der Schwerpunkt versammelt Beiträge von Petra Gehring (Darmstadt), Dirk Rustemeyer (Trier), Dirk Baecker (Witten/Herdecke), Werner Kogge (Berlin) und Christian Grüny (Frankfurt am Main und Darmstadt). Zwei den Arbeiten von Dirk Hupe gewidmete Vignetten von Helge Schalk (Bochum) und Franzjörg Baumgart (Bochum) finden sich am Ende des Schwerpunkts.

Literatur

Diebitz, Stefan (2016): Von der Bildfläche. Rezension vom 23.6.2016. In: Portal Kunstgeschichte. https://www.portalkunstgeschichte.de/meldung/manfred_sommer__von_der_bildflaeche__ eine_archaeologie_ der_lineatur__suhrkamp_2016-7414.html [19.8.2022]

Gehring, Petra (2011): Stille Spur, mächtige Farben, schwarze Kommunikaton. In: dirk hupe: ver-zeichnungen outlines. Dortmund: Kettler, S. 102-111

Grüny 2011. Grüny, Christian (2011): dirk hupe: ver-zeichnungen, leerzeichen, cut-ups. In: dirk hupe: samuel beckett und ich. Dortmund: Kettler, S. 6–16.

Luhmann, Niklas (1995): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Sommer, Manfred (2020): Stift, Blatt und Kant. Philosophie des Graphismus. Berlin: Suhrkamp [SBK].

Endnoten

[1] Vgl. die auch zu unseren Kontexten passende Rezension von Stefan Diebitz (2016).

[2] Sommer 2020, S. 17 [im Folgenden werden Zitate aus Stift, Blatt und Kant im Fließtext abgekürzt nachgewiesen als SBK].

[3] Mit einer typischen Formulierung nennt Sommer das Blatt ein »Fast-nicht-Ding«, dessen Wahrnehmung bereits derart viele »mögliche Wahrnehmungen […] bereits als unrealisierte, aber bei Bedarf realisierbare« mit einschließt (vgl. SBK, S. 88), dass auch Husserls Beschreibungsstrategien an ihre Grenzen kommen.

[4] Mit dem Begriff des inneren Ornaments nehmen wir die Ästhetik Luhmanns mit in den Blick (vgl. Luhmann 1995), was Sommer nicht tut. Das innere Ornament kommt bei ihm also nicht vor.

[5] Beide sind erschienen bei Druckverlag Kettler, Dortmund.

[6] Vgl. allerdings Gehring 2011 und Grüny 2011.

[7] Oder die Schöpferin?