Phänomenologie und Pädagogik: Eine oft verkannte, aber unverzichtbare Beziehung

Johanna Hopfner (Graz) & Silvia Stoller (Graz)

I Die phänomenologische Pädagogik aus der Sicht der phänomenologischen Philosophie

Dass die Phänomenologie besonders zur interdisziplinären Auseinandersetzung taugt, ist seit ihrem Beginn bekannt. Es gibt kaum eine Disziplin, die im 20. Jahrhundert nicht die Phänomenologie mit Begeisterung aufgenommen hat. Nicht umsonst spricht man von einer »phänomenologischen Bewegung«. Doch sieht man genauer hin, ist das Wissen um diese Einflusssphären von Seiten der Philosoph*innen doch eher gering. Das trifft auch in Hinblick auf die Pädagogik und die Erziehungswissenschaft zu. Zwar muss eingeräumt werden, dass sich die Phänomenologie im Fach Philosophie schon aus rein praktischen Gründen nicht wirklich um all die anderen Fächer kümmern kann und dies auch keineswegs muss, aber ein gelegentlicher Blick auf andere Disziplinen oder gar gelegentliche Kooperationen und die Bereitschaft, von anderen zu lernen und sich inspirieren zu lassen, erweitert den Wissenshorizont enorm und bereichert das phänomenologische Denken. Auf Seiten der Phänomenologie ist Eugen Fink sicherlich einer der Bekanntesten, was wohl damit zusammenhängt, dass er als Philosoph gehandelt wird. Weniger bekannt ist Phänomenologinnen und Phänomenologen, dass Fink zu den Hauptvertretern einer phänomenologischen Pädagogik zählt. Fink, ein Schüler Husserls und später Privatdozent bei ihm, arbeitete nach seiner Habilitierung als Professor für Philosophie und Erziehungswissenschaft in Freiburg und trug in dieser Funktion wesentlich zu einer Erweiterung und Neuorientierung der bislang praktizierten Pädagogik bei. Zu seinen Hauptwerken zählen unter anderem Erziehungswissenschaft und Lebenslehre (1970), Grundfragen der systematischen Pädagogik (1978), Natur, Freiheit, Welt. Philosophie der Erziehung (1992) und die erziehungswissenschaftlichen Vorlesungen Zur Krisenlage des modernen Menschen (1989). Auch Heinrich Rombach ist bei einigen ausgewählten Expert*innen in der Philosophie ein Begriff. Von Heidegger herkommend und auch ein Schüler von Eugen Fink, werden seine originären Arbeiten zur phänomenologisch fundierten Strukturontologie weitgehend geschätzt.[1] So gut wie unbekannt ist jedoch, dass Rombach seine Überlegungen zur Struktur – den Menschen in Strukturen denken – zu einer »strukturalen Erziehungswissenschaft« bzw. einer »strukturalen Pädagogik« ausgeweitet hat.[2] Nicht zuletzt deshalb und weil er für die Herausgabe des Lexikons für Pädagogik verantwortlich zeichnet[3], gilt er als Hauptvertreter der Phänomenologischen Erziehungswissenschaft. Die Wahrnehmung dieser transdisziplinären Denkarbeit bleibt aber selbst oft auch philosophischen ExpertInnen zu Leben und Werk Rombachs – sagen wir: minimal. Dagegen wird Alfred Schütz innerhalb der Philosophie hauptsächlich im sozialphilosophischen Kontext behandelt. Er gilt als Begründer der phänomenologischen Soziologie, gleichwohl sind seine pädagogischen Rezeptionen in der philosophischen Disziplin kaum auf Interesse gestoßen. An die österreichische Philosophin Elisabeth List muss an dieser Stelle als Ausnahme erinnert werden. Sie setzte sich intensiv mit Alfred Schütz auseinander und zählte zweifelsohne zu den besten Kenner*innen der Arbeiten von Alfred Schütz in Österreich.[4] Von den PädagogInnen ist innerhalb der Philosophie auch Günther Buck kein ganz Unbekannter. Er hat unter anderem Philosophie studiert und später als Pädagoge, Erzieher und Lehrer in Deutschland gearbeitet. Mit seiner Studie über den Erfahrungsbegriff und das Lernen ist er posthum einem auserwählten Kreis auch in der Philosophie bekannt geworden und zählt heute zu den Klassikern der phänomenologischen Pädagogik.[5] Wenn man aber noch vor wenigen Jahren im Kontext der Pädagogik feststellen musste, dass die Aufarbeitung seines Werkes noch ausstünde[6], dann gilt das noch viel mehr für die phänomenologische Philosophie, die von den vielfältigen und interessanten, auch für die Philosophie bedeutsamen Ansätzen Bucks keine Kenntnis hat. Die Liste ließe sich fortsetzen. Wir können an dieser Stelle nur auf den Übersichtsartikel von Malte Brinkmann aufmerksam machen, der die Klassiker der phänomenologischen Pädagogik übersichtlich zusammengefasst hat; ein großer Teil ist der (phänomenologischen) Philosophie unbekannt.[7]

Wir können daher von einem Wissensmanko im Bereich der phänomenologischen Philosophie sprechen – oder weniger negativ formuliert: von einem noch hoffnungsvoll zu erschließenden trans- und interdisziplinären Forschungsfeld, das die Philosophie und Pädagogik nicht nur formal – beispielsweise durch Institutszusammenlegungen (Beispiel: Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft an der Universität Wien) –, sondern auch inhaltlich näher zueinander bringt.

II Die phänomenologische Philosophie aus der Sicht der phänomenologischen Pädagogik

Wie hat die Pädagogik die Phänomenologie wahrgenommen oder eben auch nicht? Die phänomenologische Philosophie wird in der Pädagogik und vor allem in der modernen Erziehungswissenschaft in sehr unterschiedlicher Weise wahrgenommen. Das Spektrum reicht hier vom Wiederentdecken und Fruchtbarmachen über die Auswahl von bestimmten, sozialwissenschaftlich interessanten Gesichtspunkten, Platzanweisungen in historischen, anthropologischen oder methodischen Themenbereichen bis zur Rezeption phänomenologischer Gedanken ohne Wissen um ihre Herkunft und in vollkommener Unkenntnis oder Ignoranz. Beispiele wie die gründliche, von Wolfgang Schneider vorgelegte historisch-systematische Studie zu Phänomenologie und Pädagogik, die dem phänomenologischen Denken von seinen Anfängen in der Antike über die einzelnen Epochen und ihre Hauptvertretern Edmund Husserl und Heidegger und Eugen Fink, Bernhard Welte, Heinrich Rombach bis Lévinas nachgeht, um den »inneren Zusammenhang von Pädagogik und Phänomenologie«[8] aufzuzeigen, bleiben seltene Ausnahmen. Sie werden im Fach kaum zur Kenntnis genommen. Ähnlich wie der Versuch von Wolfgang Sünkel, den Wissenschaftscharakter der Pädagogik mit seinen phänomenologischen Untersuchungen der Tatsache von Erziehung und Unterricht zu untermauern, und zwar als ehemaliger Schüler von Jaspers und ganz im Sinne von Husserl, Fischer oder Rombach.[9] Man bekommt den Eindruck, der phänomenologische Gehalt mancher Gedanken oder Konzepte gerät von einer zur nächsten Generation von Wissenschaftler*innen zunehmend in Vergessenheit. So wird etwa die phänomenologisch-interaktionistisch fundierte »Lebensweltorientierung« (Hans Thiersch) als »Lebensbewältigung« (Lothar Böhnisch) präzisiert und für die Sozialarbeit in Krisensituationen aktualisierend ergänzt. Ihr phänomenologischer Kern wird dabei jedoch mehr und mehr von sozialwissenschaftlichen und (sozial-)psychologischen Theorien überformt und unscharf gestellt.[10] In der Elementarpädagogik scheinen Konstruktivismus, Wahrnehmungspsychologie und Neurowissenschaften oftmals die geeigneteren Bezugswissenschaften zu sein, um Selbstbildung, Erfahrung und Lernen zu erfassen[11], also jene Phänomene, die auch philosophisch gebildete Pädagog*innen wie Günther Buck, Käte Meyer-Drawe, Wilfried Lippitz oder Ursula Stenger mit Hilfe der Phänomenologie beleuchten.

Sind dies nun Zeichen dafür, wie tief die phänomenologische Philosophie in ihren Spielarten bereits in das pädagogische Denken eingesickert ist, oder eher ein Hinweis darauf, wie selektiv, willkürlich und gleichgültig die phänomenologischen Wurzel behandelt werden? Wirft man einen Blick in die auflagenstarken Einführungen in die Erziehungswissenschaft, spricht wenig für eine Konsolidierung der philosophischen Phänomenologie. Das Interesse an einer gezielten Aufklärung über diese Richtung und eine sichere Verortung im Fach scheinen in diesem Fall nicht leicht zu gelingen. Die empirische und kritische Erziehungswissenschaft erlangten ihre Bedeutung nicht zufällig in der »realistischen Wende« (Heinrich Roth) und durch die Abgrenzung von fragwürdigen Positionen innerhalb der geisteswissenschaftlichen Pädagogik.[12]

III These von der doppelten Ignoranz

In diesem Sinne können wir also von einer doppelten Ignoranz sprechen: einmal vonseiten der phänomenologischen Philosophie in Hinblick auf die Pädagogik und einmal vonseiten der Pädagogik in Hinblick auf die phänomenologische Philosophie. Gilt vielleicht noch immer, was Heinrich Rombach 1979, also vor über 50 Jahren sagte: »Die ›Phänomenologische Bewegung‹ hat sich darum noch nicht voll in eine phänomenologisch-pädagogische Bewegung umsetzen können«?[13] Die existenziellen Fragen sind für Philosophie und Erziehungswissenschaft jedenfalls nicht aus der Welt, und für die Wiederbelebung und Neubesinnung auf die Phänomenologie stehen die Zeichen offenbar nicht so schlecht.[14] Dies von beiden Seiten ausgehend: von der Philosophie ebenso wie von der Pädagogik bzw. der Erziehungswissenschaft.

IV Thema des Schwerpunkts »Phänomenologie und Pädagogik«

Das Journal Phänomenologie rückt hier erstmals die Pädagogik mit einem eigenen Schwerpunkt ins Blickfeld, um der interdisziplinären Auseinandersetzung zwischen Phänomenologie und Pädagogik neue Impulse und einen angemessenen Raum zu geben. Damit sollen die vielfältigen Verschränkungen zwischen Pädagogik und Phänomenologie explizit sichtbar und – so die Hoffnung – eine anregende Beschäftigung mit dieser Thematik unterstützt werden. Allzu oft überlässt die phänomenologische Philosophie nämlich pädagogische und erziehungswissenschaftliche Themenfelder der Pädagogik und der Erziehungswissenschaft: Jean-Jacques Rousseau oder auch Karl Jaspers, Maurice Merleau-Ponty werden zum Beispiel als Philosophen gelesen, ihre pädagogischen Implikationen bleiben aber zumeist unberücksichtigt. Eine disziplinüberschreitende Auseinandersetzung ist Mangelware. Aber auch auf Seiten der Pädagogik und der Erziehungswissenschaften lassen sich immer wieder Berührungsängste feststellen. Es besteht eine gewisse Scheu, das theoretische und methodologische Potenzial der Phänomenologie für aktuelle Themen und Fragen auszuschöpfen oder zu Rate zu ziehen. Dies geschieht ungeachtet der langen Tradition, die von Aloys Fischer über Otto Friedrich Bollnow, Martinus Langeveld, Friedrich Copei, Günther Buck, Werner Loch, Heinrich Rombach, Eugen Fink und Egon Schütz bis zu Wilfried Lippitz, Käte Meyer-Drawe, Malte Brinkmann, Ursula Stenger und Wolfgang Sünkel reicht, mit wegweisenden Ideen und Konzepten zu zentralen Themen wie Erziehung, Bildung, Lernen, Wissenschaftlichkeit und vielen anderen Themen, die variantenreiche Anknüpfungspunkte an den verschiedenen Spielarten der Phänomenologie gefunden, ausgebaut und für die Erziehungswissenschaft inhaltlich und methodisch fruchtbar gemacht haben.[15]

In den letzten Jahrzehnten sind diesbezüglich vonseiten der Pädagogik und Erziehungswissenschaft wegbereitende Schritte gegangen worden. Die im Jahr 2015 von Malte Brinkmann gegründete Schriftenreihe »Phänomenologische Erziehungswissenschaft« im Springer-Verlag legt eindrucksvoll Zeugnis ab von den umspannenden und vielfältigen Thematisierungen zwischen Phänomenologie und Pädagogik. Bis dato sind bereits 12 Bände erschienen, und es ist mit guten Gründen anzunehmen, dass noch viele weitere Bände folgen werden. Der jüngste Band greift beispielsweise das Thema Fürsorge bzw. Care vor einem phänomenologischen Hintergrund auf und präsentiert die Arbeit der italienischen Pädagogin und Erziehungswissenschaftlerin Luigina Mortari von der Universität Verona. Nebst den in dieser Reihe erschienenen Sammelbänden und Monografien kann aber auch auf die ebenfalls beachtliche Anzahl an Einzelarbeiten mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und wegweisenden Ansätzen zugegriffen werden. An erster Stelle sei Käte Meyer-Drawe genannt, die schon sehr früh aus der Perspektive der Phänomenologie (Merleau-Ponty, Waldenfels u. a.) das Verhältnis von Mensch und Maschine reflektiert hat und seitdem immer wieder einen kritischen Blick auf moderne, lebensweltvergessende Entwicklungen aufmerksam macht. Ein grundlegendes und weit gefasstes Erziehungsverständnis entfaltet Johanna Hopfner in vielen einzelnen kritischen und zeitgemäßen Studien, die verankert in der Tradition des Fachs und vor dem Hintergrund der der Rezeption des Werkes von Wolfgang Sünkel den Blick für die gegenwärtigen Herausforderungen schärfen.[16] Damit bereicherte sie auch die Genderforschung in der Pädagogik und hob die Bedeutung der auf dem Begriff der Erfahrung beruhenden Phänomenologie immer wieder hervor.[17] Dem schließt sich auch Silvia Stoller an, die die feministische Phänomenologie im deutschsprachigen Raum gefördert hat und auch für die Pädagogik fruchtbar zu machen versucht.[18] Ursula Stenger\textbf{ }legt stets besonderen Wert auf die Phänomenologie in der Theorie und Praxis der frühen Kindheit.[19] Als Vertreterin des US-amerikanischen Raumes kann beispielhaft Eva Simms mit ihren Arbeiten zur Phänomenologie des Kindes genannt werden.[20]

Das Journal Phänomenologie möchte mit seinem Schwerpunkt »Pädagogik« hier ansetzen und seine Leser\_innen dazu einladen, die vielfältigen Bezüge zwischen Phänomenologie und Pädagogik zu reflektieren oder sich einfach inspirieren zu lassen. Es ist uns gelungen, eine bunte Vielfalt von Zugängen zu versammeln, die belegen, wie lebendig sich der Austausch gestalten lässt und wie verschiedene Vertreter\_innen in der Auseinandersetzung mit grundlegenden und aktuellen Fragen stets Bezug auf phänomenologisches Gedankengut nehmen, um zu einem tieferen Verständnis zu gelangen. Der erste Komplex von Beiträgen lässt sich mit »Die Bedeutung des scheinbar Unbedeutenden« überschreiben und bietet mit reflektierten Beobachtungen von zwischenmenschlichen Begebenheiten sensible und tiefe Einblicke in die Erlebnis- und Erfahrungswelt von Kindern und Erwachsenen. Ein zweiter Komplex, den wir als »Die existenzielle Eingebundenheit in Natur, Kultur und Gesellschaft« bezeichnen wollen, stellt die Einzelnen vor immer neue Herausforderungen, hält dabei zwar Chancen der Entwicklung bereit, aber auch schier unüberwindbare Hindernisse und Bedrohungen der eigenen Existenz. Die Unverzichtbarkeit der phänomenologischen Perspektive wird so in jedem einzelnen Beitrag auf besondere Weise und schließlich zusammenfassend für die Erziehungswissenschaft insgesamt in dem Interview deutlich, für das sich freundlicherweise Malte Brinkmann bereiterklärt hat.

V Zusammenfassung der Beiträge

Den Anfang macht Käte Meyer-Drawe (Bochum), »die vielleicht wirkmächtigste Vertreterin aktueller phänomenologischer Erziehungswissenschaft«[21]. In ihrem Plädoyer für »Umwege« im »Umgang miteinander« besticht sie durch ihre unvergleichlichen Zeitdiagnosen, ohne eine Spur von Larmoyanz. Die nicht erst im Zuge der Pandemie – mit den Distanz gebietenden, digital vermittelten Bewältigungsversuchen – eingebürgerten Umgangsformen beobachtet Meyer-Drawe sehr präzise. An »Affektgemeinschaften«, leichtfertigen Beschimpfungen oder dem Verlust von Begrüßungsritualen, dem Dank, zeigt sie überzeugend und klar nachvollziehbar die Verarmung auf, die damit einhergeht und sukzessive zur Verrohung beiträgt. Ohne anklagend wirkende Beschwerde bringt sie eindrucksvoll in Erinnerung, wie die eingesetzten Mittel die Akteurinnen und Akteure selbst zu inszenierter Heuchelei und Schauspiel verführen und schrittweise ein scheinbar nur gewöhnliches und respektvolles Miteinander untergraben können.

Ursula Stenger (Köln) widmet sich in ihrer feinsinnigen und detailreichen Studie mit der aufmerksamen Beobachtung von Momentaufnahmen uneingeschränkt dem Phänomen des Erlebens eines Kindes. Sie zeigt sich darin als Forscherin von der Ergriffenheit des Kindes nicht nur selbst ergriffen, sondern bringt dem Kind zugleich jene Achtung entgegen, die es in seinem angestrengten Tun und Erfahren uneingeschränkt verdient. Diese pädagogisch höchst bedeutsame Haltung offenbart sich zugleich nur in und durch eine tiefe, phänomenologisch fundierte Einsicht. Die trennenden raumzeitlichen Schranken werden überwindbar durch die Erfahrung des Zwischenmenschlichen in der Hinwendung an den anderen oder das andere. Anschaulich und beispielhaft führt Stenger damit vor, wie Phänomenologie als analytisches Werkzeug zum tieferen Verständnis pädagogischer Prozesse beiträgt.

Die scheinbar belanglose Erfahrung dieses Zwischen machen alle elementar als Kind und auch später immer wieder gerne im Spiel, das Maximilian Barth (Graz) eingehend behandelt. Das Spiel als solches bewegt sich nämlich in einem eigentümlichen Zwischenraum, der wesentlich im Kontrast zum Ernst der Wirklichkeit besteht und paradox »nur« als Spiel erlebt wird. Im Rollenspiel wird dieser Zwischenraum des Spiels um eine weitere Dimension ergänzt. Zwischen Eigenem und Fremdem finden die DarstellerInnen zum authentischen Ausdruck des fremden Anderen. Das Aufgehen in der an sich fremden Rolle ist hier explizites Ziel. Dem liegt jedoch stets ein ebenso elementares wie dauerhaftes eigenes Erleben jeder bzw. jedes Einzelnen zugrunde – ein Paradox, dem kein noch so gelungenes Schauspiel entkommt.

Vermutlich liegt gerade in dem Paradox nicht nur das heilsame Moment des kindlichen Rollenspiels, sondern, wie Ulf Sauerbrey (Erfurt) im Anschluss zeigt, die kulturelle Bedeutung des Kinderspiels für Veränderungen im Prozess und Wandel der Kultur überhaupt. Inspiriert von Langeveld nimmt sich Sauerbrey die Klärung der Rolle von Gegenständen im kindlichen Spiel vor. Die Intentionalität der Gegenstände oder ihr Aufforderungscharakter regt den Spiel- und Tätigkeitstrieb zugleich dazu an, mit den Dingen zu variieren, sie zu verfremden und neu zu gebrauchen. Dies ist und bleibt der wirksamste Antrieb für die kulturelle Evolution. Jede neue Generation überschreitet nicht zuletzt wegen dieses Tätigkeitstriebes die unsichtbare Linie zwischen Tradition und Veränderung. Es ist eben nicht nur die Aufgabe der Jungen, sich in der vorgegebenen Welt zurecht zu finden, sondern diese auch neu zu gestalten. Das einzusehen, mag der alten Generation oft schwerfallen, aber die Kreativität des Kinderspiels ist immerhin dazu angetan, sich mit dem Gedanken an Veränderung zu versöhnen.

Die Eingebundenheit der pädagogischen Fragen in größere Zusammenhänge thematisiert Ulrich Wehner (Karlsruhe) als Verantwortung im Anthropozän. Die Stellung des Menschen in der Schöpfung ist nicht schlicht gegeben. Die Verantwortung für alle Lebewesen muss erst erlernt werden. Insofern ergibt sich aus dem Wesen des Menschen und seiner existenziellen Stellung im Kosmos ein pädagogischer Auftrag. Die Phänomenologie erkennt in der Dimension der Leiblichkeit zwar auch die besondere Bedeutung der Pädagogik. Aber in dem unterschiedlichen Verständnis von Lernen wird dies nicht immer eingelöst. Die Pädagogik trägt oftmals selbst zu Vereinseitigungen bei. Einzig mit dem Verständnis vom Lernen als Erfahrung gelingt eine Annäherung an die Erfüllung dieser verantwortlichen Aufgabe, die den Subjekten auch gerecht wird.

Jan Heiser (Wien) bringt ein phänomenologisch geklärtes Lernverständnis mit der darin eingeschlossenen Dynamik der (Selbst-)Veränderung als »umwenden, umdenken, umlernen« auf den Begriff. Ausführlich und gründlich diskutiert er die Lebens- und Gefühlslagen des lernenden und sich bildenden Subjekts mit all den Brüchen, Leerstellen und Friktionen. Die manchmal schmerzhaften, gleichwohl notwendigen Infragestellungen der vorgängigen Urteile und Erfahrungen sowie die wertvollen Bereicherungen durch den interkulturellen Austausch kommen ebenfalls zur Sprache.

Mit Blick auf das aktuelle Geschehen gibt Johanna Hopfner (Graz) Beispiele dafür, wie die existenzielle Einbettung von Menschen in natürliche und kulturelle Lebensbedingungen extrem vereinseitigt und funktionalisiert werden, um privaten Reichtum und Macht zu steigern. Die zerstörerischen Konsequenzen für den Großteil der Menschen und die Natur sind dafür offenbar eingeplant. In Kriegen verlangt dieses Prinzip jedes Opfer, einschließlich das des eigenen Lebens.

Abschließend gibt Malte Brinkmann (Berlin) ein aufschlussreiches Interview zu dem Verhältnis von Pädagogik und Phänomenologie, das Differenzen in den nationalen und internationalen Diskursen greifbar macht, methodologische Stärken aufzeigt, Desiderate benennt, Perspektiven aufzeigt und den Themenschwerpunkt mit der ihm eigenen Klarheit und Übersicht bereichert.

VI Das Potenzial

Wir können angesichts der skizzierten Desiderate sowie der vielfältigen Ansätze nicht zuletzt in diesem Heft abschließend nur noch auf das enorme Potenzial hinweisen, das dieser interdisziplinäre Forschungsbereich von Phänomenologie und Pädagogik für die Zukunft bereithält. Wir wollen daher die Einleitung mit den so passenden Worten von Malte Brinkmann aus dem Interview beschließen: »Es gibt natürlich wahnsinnig viel!« Ja, wahnsinnig viel; vieles, das noch zu machen und zu erforschen ist: für die Pädagogik, für die Philosophie – für eine vertiefte und interessante Kooperation! – Wir möchten an dieser Stelle unseren Beiträger*innen ganz herzlich danken dafür, dass sie dieses Projekt im Journal Phänomenologie mit ihren Beiträgen und ihrem Engagement unterstützt haben.

 

Endnoten

[1] So beispielsweise Heinrich Rombach, Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit, Freiburg, München: Alber 1971.

[2] Siehe Heinrich Rombach, »Phänomenologische Erziehungswissenschaft und Strukturpädagogik«, in: Malte Brinkmann, Phänomenologische Erziehungswissenschaft von ihren Anfängen bis heute. Eine Anthologie, Wiesbaden: Springer (Reihe »Phänomenologischer Erziehungswissenschaft«; 4) 2019, S. 235–252.

[3] Heinrich Rombach, Lexikon der Pädagogik, 4 Bde., hg. vom Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik und dem Institut für Vergleichende Erziehungswissenschaft Salzburg, Schriftleitung: Heinrich Rombach, Freiburg [u. a.]: Herder 1952–1955, Ergänzungsband 1964.

[4] Elisabeth List gab 2004 den Band VI/1 der Alfred Schütz Werkausgabe heraus (Alfred Schütz, Relevanz und Handeln. Zur Phänomenologie des Alltagswissens, in: Alfred Schütz Werkausgabe VI/1, hg. von Elisabeth List. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2004) und stellte in ihren wegweisenden Werken zur Frauenforschung und den Kontingenzerfahrungen des Subjekts stets den Zusammenhang zur Phänomenologie des Alltagswissens her (vgl. Elisabeth List, Die Präsenz des Anderen. Theorie und Geschlechterpolitik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993 und dies., Grenzen der Verfügbarkeit. Die Technik, das Subjekt und das Lebendige, Wien: Passagen 2001).

[5] Günther Buck, Lernen und Erfahrung. Zum Begriff der didaktischen Induktion, Stuttgart [u. a.]: Kohlhammer 1967.

[6] Siehe dazu Sabrina Schrenk / Torben Pauls (Hg.), Aus Erfahrung lernen. Anschlüsse an Günther Buck, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014.

[7] Für einen Überblick über die phänomenologische Pädagogik siehe Malte Brinkmann, »Phänomenologische Erziehungswissenschaft. Ein systematischer Überblick von ihren Anfängen bis heute«, in: Pädagogik und Phänomenologie, hg. von Malte Brinkmann, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2017 [Phänomenologische Erziehungswissenschaft; Bd. 3], S. 17–45.

[8] Wolfgang Schneider, Phänomenologie und Pädagogik, Eine geschichtlich-systematische Studie, Würzburg: Ergon 2010, S. 371 ff.

[9] Vgl. Wolfgang Sünkel, Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis, Allgemeine Theorie der Erziehung, Bd. 1, Weinheim, München: Juventa 2011 und ders., Phänomenologie des Unterrichts, Grundriß der theoretischen Didaktik, Weinheim, München: Juventa 1996.

[10] Vgl. Hans Thiersch, Lebensweltorientierte Soziale Arbeit, Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel, Weinheim, München: Juventa 2005 (6. Aufl.); Lothar Böhnisch, Lebensbewältigung. Ein Konzept für die Soziale Arbeit, Weinheim, Basel: Beltz/Juventa 2016. Die Konzepte von Alfred Schütz und der Ethnomethologie scheinen hier noch am ehesten anschlussfähig.

[11] Vgl. Gerd E. Schäfer, Bildungsprozesse im Kindesalter, Selbstbildung, Erfahrung und Lernen in der frühen Kindheit, Weinheim, Basel: Beltz/Juventa 2016.

[12] So kommt beispielsweise Hans-Christoph Koller, Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Eine Einführung, Stuttgart: Kohlhammer 2004, auch in der siebten Auflage weitgehend ohne einen Bezug auf die Phänomenologie und ihre Vertreter*innen im Fach aus. Eine vergleichbare Fehlanzeige findet sich in Wolfgang Hörner / Barbara Drinck / Solvejg Jobst, Bildung, Erziehung, Sozialisation, Opladen, Farmington Hills: Barbara Budrich 2008. Dagegen handelt Roland Reichenbach, Philosophie der Bildung und Erziehung. Eine Einführung, Stuttgart: Kohlhammer 2008 zumindest »Die existenzialistische Erziehungsphilosophie« (S. 154–177) ab. Auch für Jörg Zirfas, Einführung in die Erziehungswissenschaft, Stuttgart: Brill/Schöningh 2017, gilt, dass die phänomenologische Philosophie einen festen Platz in der Anthropologie einnimmt. Das trifft auf den Umkreis von Christoph Wulf vermutlich insgesamt zu. Mit Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch historische Anthropologie, Weinheim, Basel: Beltz 1997 ist auch die Bedeutung der Phänomenologie und ihrer Vertreter*innen dokumentiert.

[13] Heinrich Rombach, »Phänomenologische Erziehungswissenschaft und Strukturpädagogik«, in: Malte Brinkmann, Phänomenologische Erziehungswissenschaft von ihren Anfängen bis heute. Eine Anthologie, Wiesbaden: Springer (Reihe »Phänomenologischer Erziehungswissenschaft«; 4) 2019, S. 235–252, hier S. 241.

[14] Davon zeugen die Initiativen, die Malte Brinkmann ergriffen hat, ebenso wie die Beiträge zu diesem Schwerpunkt des Journals.

[15] Diese Entwicklung zeichnet Malte Brinkmann klar strukturiert und sachlich überzeugend nach. Vgl. »Phänomenologische Erziehungswissenschaft. Ein systematischer Überblick von ihren Anfängen bis heute«, in: Malte Brinkmann (Hg.), Pädagogik – Phänomenologie. Verhältnisbestimmungen und Herausforderungen, Wiesbaden: Springer 2017, S. 17–45.

[16] Siehe z. B. Johanna Hopfner, Gelegentliche Gedanken über Erziehung, Frankfurt/Main: Peter Lang 2008; dies., »Unwissen. Annäherungen an ein doppelgesichtiges Phänomen oder wem nützt und wem schadet es?«, in: Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 96/4 (2020), S. 471\-486; »Wissenschaft und Erziehungsratgeber. Brüche und Widersprüche«, in: Michaela Schmid / Ulf Sauerbrey / Steffen Großkopf (Hg.), Ratgeberforschung in der Erziehungswissenschaft. Grundlagen und Reflexionen, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2019, S. 199–211; Hopfner, Johanna / Claudia Stöckl, »Lernen im luftleeren Raum – vom Verschwinden elementarer Teile«, in: Katja Grundig de Vazquez / Alexandra Schotte (Hg.), Erziehung und Unterricht. Neue Perspektiven auf Johann Friedrich Herbarts Allgemeine Pädagogik, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, S. 157–168.

[17] Siehe z. B. Johanna Hopfner, »Zwischen Eigenem und Fremdem. Phänomenologische Beiträge zur erziehungswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung«, in: Edith Glaser / Dorle Klika / Annedore Prengel (Hg.), Handbuch Gender und Erziehungswissenschaft, Bad Heilbrunn: Klinker 2004, S. 47–58. Damit hat sie in ihrem Fach der Pädagogik wesentlich zum Forschungsansatz der feministischen Phänomenologie beigetragen. Zu diesem Ansatz siehe den Überblicksartikel von Silvia Stoller, »What is Feminist Phenomenology? Looking Backward and Into the Future«, in: Feminist Phenomenology Futures, hg. von Helen A. Fielding und Dorothea E. Olkowski, Bloomington, Indiana: Indiana University Press 2017, S. 328–353.

[18] Siehe Silvia Stoller, Existenz – Differenz – Konstruktion. Phänomenologie der Geschlechtlichkeit bei Beauvoir, Irigaray und Butler, München: Wilhelm Fink 2010 und dies., »Bilden durch Zuhören – Luce Irigaray für die Pädagogik«, in: Claudia Stöckl / Agnes Trattner (Hg.), Erziehen in einer unübersichtlich gewordenen Welt. Positionen, Widersprüche, Utopien, Berlin [u. a.]: Peter Lang 2020, S. 47–66.

[19] Vgl. Ursula Stenger / Doris Edelmann / Anke König (Hg.), Erziehungswissenschaftliche Perspektiven in frühkindlicher Theoriebildung und Forschung, Weinheim, Basel: Beltz/Juventa 2015, oder zusammen mit Kirstin Westphal, Ursula Stenger und Johannes Bilstein (Hg.), Körper denken, Erfahrung nachschreiben, Weinheim, Basel: Beltz/Juventa 2021.

[20] Siehe Eva Simms, The Child in the World. Embodiment, Time, and Language in Early Childhood, Detroit: Wayne University Press 2008. Siehe dazu das Interview von Silvia Stoller, das mit Eva Simms für das Journal Phänomenologie geführt wurde: »Wieder denken zu lernen wie ein Kind. Interview mit Eva-Maria Simms«, in: Journal Phänomenologie 38 (2012), S. 81–92.

[21] Vgl. Brinkmann, »Phänomenologische Erziehungswissenschaft«, a. a. O., S. 36.