Musil und die Phänomenologie – die Phänomenologie und Musil: ein Chiasmus anstelle einer Einleitung

Artur R. Boelderl (Klagenfurt am Wörthersee, Österreich)

Ich werde einmal sagen müssen, warum ich für die »flache«
Experimentalpsychologie Interesse habe und warum ich keines
für Freud, Klages, ja selbst für die Phänomenologie habe.

Robert Musil[1]

Solchen auf dem Wege der Selbstkommentierung im Kontext lange gehegter Pläne zu einer Autobiographie getroffenen Aussagen Robert Musils zum Trotz – die sich im Übrigen nicht durchwegs wie hier auf die Phänomenologie als eine bestimmte Spielart zeitgenössischer Philosophie beschränkt sehen, sondern andernorts gleich auch auf die letztere als Diskurs samt und sonders bezogen finden – steht die im Konzert der literarischen Moderne wenn nicht beispiellose, so doch herausragende Affinität dieses Dichters zur Philosophie als ganzheitlich um den Menschen und dessen (Selbst-)Erkenntnis bemühter Disziplin sowie sein intimes und umfassendes Wissen um die Geschichte derselben in der einschlägigen Forschung seit jeher außer Streit. Die äußerlichen Fakten, die diese Affinität bildungsbiographisch begünstigt haben und zur Genüge dokumentiert sind (darunter nicht nur das frühe Interesse bereits des Schülers an Nietzsche wie Emerson et al. und das Doktoratsstudium der Philosophie bei einem der führenden Köpfe der frühen Phänomenologie und Gestaltpsychologie Carl Stumpf in Berlin, sondern auch die über Musils gesamte schriftstellerisch aktive Lebenszeit angefertigten, zahlreichen Exzerpte aus verschiedensten, im engeren wie weiteren Sinn philosophischen Büchern und Kompendien), müssen hier daher auch nicht en détail reiteriert werden.

Weitaus bedeutsamer ist die Erinnerung an die inneren Gründe, die sowohl die lebenslang kritische Haltung Musils gegenüber einem bestimmten, tradierten Verständnis von Philosophie im Allgemeinen einerseits sowie im Besonderen jener zu seiner Zeit als modern sich gerierenden Auffassung derselben andererseits bestimmten, welche er in unserem Eingangszitat etwas unscharf als Phänomenologie rubriziert und scheinbar undifferenziert in einen Topf mit der Psychoanalyse Freuds und der Klages’schen Kosmogonie von Eros und Sexus wirft: Ihr Gemeinsames ist, aus Musils Sicht, eine gleichsam von Anfang an, auf konzeptueller Ebene fehlende – und in der Folge auf methodologischer Ebene umso schmerzlicher als mangelnde Aufmerksamkeit in Erscheinung tretende – Sensibilität für jene dynamischen Prozesse, die sich nicht dem eo ipso flüchtigen, weil theoretisch-abschweifenden (Über-)Blick des Philosophen, sondern der konstanten, wiederholenden, langwierigen und genauen Betrachtung, dem Ein-Blick gewissermaßen, der Experimentalpsychologin darbieten; in diesem Sinne ist dem »Flachen« der experimentell orientierten Wissenschaft, wie sie auf durchaus Phänomenologie-grundierter Basis die Gestaltpsychologie anstrebte, in Musils Augen der Vorzug gegenüber einer bloß vermeintlichen Tiefe solcher Ansätze zu geben, die – entgegen teils anderslautenden Beteuerungen anti-metaphysischer Natur – auf der Suche nach transzendentalen Grundlegungen der psychischen Erscheinungen auch nicht vor offenkundigen Rückfällen in spekulatives Denken gefeit waren resp. sich solcher radikal enthalten wollten oder konnten, zumindest nicht in der Art und Weise ihrer Argumentation, d.h. in ihrer Sprache. Das galt mit umgekehrten Vorzeichen auch für Vertreter:innen der explizit Metaphysik-kritischen, vorgeblich allein (erfahrungs-)wissenschaftlichen Tatsachen verpflichteten Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie vom Schlage eines Ernst Mach, deren (ebenfalls zumindest terminologischen, damit bzw. dadurch indes mitunter eben auch argumentativen) Inkonsequenzen Musil in seiner Dissertation am nämlichen Beispiel aufgezeigt zu haben überzeugt war, wobei er unter dem Einfluss Stumpfs unversehens in eine gewisse Nähe zu Husserl’schen Positionen geraten war, von denen her er seine kritische Beurteilung der Lehren Machs unternahm.[2]

Diesen methodologischen Primat der Flachheit, zweifellos mitmotiviert von Feststellungen Nietzsches wie derjenigen, dass die (alten) Griechen aus Tiefe oberflächlich gewesen seien,[3] sah Musil im Grunde nirgends gewährleistet, weder in der Philosophie noch in der Psychologie, nicht in Phänomenologie und nicht in Psychoanalyse, doch ebenso wenig in der zeitgenössischen Dichtung mit ihrem zunehmend reflexiven Charakter, den er mit wenigen Ausnahmen auch und gerade dort, wo sie sich allgemeinen Zuspruchs sowohl von Seiten der Literaturkritik als auch von Seiten eines breiteren (Kauf-)Publikums erfreute, für prätentiös und gekünstelt, letztlich schal und gerade in ihrem Erkenntniswert begrenzt, wenn nicht rundheraus irreführend und falsch hielt. Sein eigener – und durch und durch eigenständiger – Versuch zur literarischen Umsetzung dieses Primats verstand sich somit dezidiert nicht als Preisgabe des von den Musil bestens vertrauten zeitgenössischen Diskursen wie Phänomenologie und Psychoanalyse erhobenen Anspruchs auf eine neue, die traditionell zu metaphysischen Ausflüchten und spekulativen Scheinlösungen neigenden Disziplinen überholende, wissenschaftlichen Kriterien möglichst genügende Erkenntnis- und Ausdrucksweise, sondern im Gegenteil als präzise(re) Form der Einlösung just dieses Anspruchs. Dabei übernahm der literarische Duktus die Funktion der Verflachung vermeintlich abgründiger Unebenheiten in der Welt der Erscheinungen für ein Bewusstsein vulgo Phänomene zugunsten ihrer besseren Wahrnehmbarkeit und Erkennbarkeit in einer beinahe bis zur völligen Verdünnung ausgerollten, in letzter Instanz unendlichen oder jedenfalls unvollendeten Narration, wie sie der große Roman repräsentiert – wie Musil sie aber zuvor schon in den beiden Novellen der Vereinigungen beispielhaft erprobt hatte: Nicht als Buch betrachtet, so heißt es im Rückblick unter Bezugnahme auf das schlechte Abschneiden des Bandes in der Öffentlichkeit wie bei der Kritik, zeige sich, was diese seien, sondern erst und nur wenn die Blätter zwischen zwei Glasscheiben ausgebreitet dem Blick dargeboten und von Zeit zu Zeit ausgetauscht würden, lasse sich erkennen, worum es sich dabei handle;[4] wenn also die Linearität der Erzählung aufgehoben würde und die im literarischen Text zwangsläufig als aufeinander folgend beschriebenen, in Wahrheit aber keineswegs sukzessiv i.S.v. kausal miteinander verbundenen Zustände einzeln als solche räumlich nebeneinander und einander zum Teil überlagernd erblickt werden könnten, ganz wie der borromäische Knoten bei Jacques Lacan eine geometrisch-zweidimensionale mise-à-plat (Abflachung, Plättung) des in seinen topologischen Eigenschaften anders nicht darstellbaren Unbewussten repräsentiert – dann bestünde die Chance zu sehen, was sich freilich auch vor solcher methodologischen, diesfalls literarischen Zurichtung des Phänomens immer schon gezeigt haben wird.

Nicht kein Interesse für die Phänomenologie wird man Musil also vor diesem Hintergrund attestieren dürfen (wie er selbst es tat, freilich im Wege ironischer Übertreibung) – dazu hat sie wie die Philosophie überhaupt in seiner gesamten Bildung sowie über seine ganze schriftstellerische Laufbahn hinweg viel zu großes Gewicht, was ihre spezifischen und von keinem anderen wissenschaftlichen Diskurs bedienten Fragestellungen betraf –,[5] wohl aber kein Interesse mehr an der Phänomenologie, soweit sie mit diesen ihren Fragestellungen und angesichts der sich wandelnden Antworten darauf nicht gleichzeitig peu à peu auch ihre Form zu ändern bereit sich zeigte, das heißt, sofern sie nicht (wie er selbst es mit seinem Entschluss, Dichter zu werden, statt Philosoph zu sein, vollzogen hatte) aus ihren eignen Erkenntnissen die Konsequenz zog, nicht mehr einfach Philosophie, geschweige denn die (wahre, echte, letzte, einzige, …) Philosophie sein zu können, oder noch anders und mit seinen, Musils eigenen Worten gesagt: solange sie nicht gewillt war einzugestehen, »daß wir keine Philosophie haben«, sei »die richtige Philosophie der gegenwärtigen Zeitspanne«[6]. Dass der von ihm dagegen propagierte »auf Tatsachen gerichtete Sinn«[7], auf den er seine literarische Tätigkeit ausrichtete, nicht nur nichts »Antiphilosophisches«[8] an sich hatte und dass er dem Grundimpuls von Husserls Phänomenologie nicht nur vertraut, ja verwandt war, sondern diesem darüber hinaus sogar wesentliche Anregung verdankte, gewonnen durch die eingehende Beschäftigung des jungen Musil mit den Logischen Untersuchungen schon vor der Zeit seines aktiven Studiums der Philosophie in Berlin, bildet die Grundvoraussetzung der Konzeption dieses Schwerpunkthefts bzw. der dieses vorbereitenden Tagung „Funktionäre der Menschheit“ (Hua VI, 15) im „Erdensekretariat für Genauigkeit und Seele“ (GA 2, 459) – Robert Musils Versuch, Literatur als strenge phänomenologische Wissenschaft zu betreiben, die von 15. bis 17. April 2021 am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt online stattfand und auf der die hier versammelten Beiträge in Auswahl beruhen.[9] der AAU veranstaltete Tagung Musil und die Psychologie (s. Anm. 5) im Zusammenhang mit dem FWF-geförderten \-Forschungsprojekt MUSIL ONLINE – interdiskursiver Kommentar (FWF-Projekt Nr. P 30028, https://pf.fwf.ac.at/de/wissenschaft-konkret/project-finder/project\_pdfs/pdf\_abstracts/p30028d. pdf) sowohl mit mit dem Webportal MUSIL ONLINE (http://musilonline.at) bzw. dessen in Entwicklung befindlichem Prototyp an der Österreichischen Nationalbibliothek \-(https://edition. onb.ac.at/musil). Zum jeweiligen Tagungsprogramm siehe \-https://www.aau.at/musil/aktuelles/ musil-und-die-phaenomenologie-interantionale-tagung-15-17-04-2021/ bzw. \-https://www.aau. at/musil/aktuelles/musil-und-die-psychologie-internationale-tagung-4-6-11-2021/; von den Re\-ferent:innen freigegebene Vortragsaufzeichnungen finden sich am Youtube-Kanal des RMI, z. B. zusammengefasst in der Playlist: https://www.youtube.com/playlist?list=PLe7FfITM1osHlTFBrZp1gNq-mosbQ0Rma. } Aus ihnen zeichnet sich sowohl der hier einleitend umrissene Standort Musils ›nahe auf getrenntesten Bergen‹ – wie es in Hölderlins »Patmos« heißt – namens Phänomenologie und Dichtung in seinen unterschiedlichen Aspekten deutlich ab, wie sie zugleich (nicht nur) am Beispiel Musils auch einen vertieften Blick auf das Verhältnis von Philosophie und Literatur überhaupt in und seit der Moderne werfen, das in der einschlägigen Forschung immer wieder neu diskutiert wird; und sie leisten damit, so ist wenigstens zu wünschen, einen Beitrag dazu, Musil zunehmend als einen Referenzautor in dem Sinn zu etablieren, dass man mehr und mehr dazu übergeht, nicht nur ihn mit Husserl, Scheler, Heidegger et al. zu lesen, sondern auch vice versa Husserl, Scheler, Heidegger et al. mit Musil.[10]

Für die ehrenvolle Gelegenheit, die Berechtigung solcher Absicht in Erinnerung zu rufen bzw. zu unterstreichen, indem man Musils Werk zum Gegenstand des ihm gewidmeten Schwerpunkthefts einer philosophischen, näherhin phänomenologischen Zeitschrift macht, bin ich dem Redaktionsteam des Journals zu großem Dank verpflichtet. Dieser erstreckt sich nicht minder auf all diejenigen, die zum Gelingen der Tagung beigetragen, wie diejenigen unter ihnen, die ihre Beiträge in schriftlicher Form für die nunmehrige Publikation zur Verfügung gestellt haben – die nicht die letzte zum Themenkomplex Musil und die Phänomenologie / Die Phänomenologie und Musil sein möge.

Endnoten

[1] Robert Musil, »Autobiographie 1937–1942«, Notat Nr. 144 (1940), in: Ders., Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften, DVD-ROM, hg. von Walter Fanta unter Mitarb. von Rosmarie Zeller, Klagenfurt: Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv 2009, Update 2015, Lesetexte, Bd. 17: Späte Hefte 1928–1942, Heft 33. (= KA)

[2] Vgl. Artur R. Boelderl, »MUSIL MACH STUMPF oder Der Roman als strenge Wissenschaft«, in: Károly Kókai (Hg.), Robert Musil und die modernen Wissenschaften, o. O. [Budapest]: NoPress 2019, S. 47–74.

[3] Vgl. Friedrich Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft (la gaya scienza)«, in: Ders., Morgenröte u. a., München u. a.: dtv 1980, S. 352. (= Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 3)

[4] Vgl. KA/Bd. 16/III/II/Vermischte Notizen/76.

[5] Nämliches galt mutatis mutandis auch für die im Eingangszitat mit diskreditierte (Tiefen-)Psychologie in Gestalt der Psychoanalyse: Dem Verhältnis Musils zu dieser hat sich eine Online-Tagung gewidmet, die von 4. bis 6. November 2021 am Klagenfurter Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv (RMI) stattfand (s. Anm. 9).

[6] Robert Musil, »Der deutsche Mensch als Symptom«, in: Ders., Projekte 1900–1942. Unveröffentlichte Werke aus dem Nachlass, hg. von Walter Fanta, Salzburg, Wien: Jung und Jung 2021, S. 235–291, hier S. 266. (= Gesamtausgabe, Bd. 12)

[7] Ebd.

[8] Ebd.

[9] Diese Tagung, veranstaltet in Kooperation mit der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft (IRMG), der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie und dem Institut für Philosophie der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (AAU), steht ebenso wie die in Kooperation mit der IRMG, der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien und dem Institut für Germanistik\textsuperscript{AECC

[10] Dies die berechtigte und bleibend aktuelle Forderung von Inka Mülder-Bach, Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman, München: Hanser 2013, S. 12.