Nachdenken im Voraus. Mitten in der Corona-Krise

Ulrike Kadi (Wien), Martin W. Schnell (Gelsenkirchen)

St. Corona ist ein kleines Dorf mit 390 Einwohnerinnen und Einwohnern. Seit mehr als einem halben Jahr steht sein Name ebenso wie die gleichnamige Heilige, die unter anderem als Patronin der Seuchenbekämpfung verehrt wird, für eine Viruserkrankung, über die die Welt sehr viel mehr weiß – oder zu wissen glaubt – als über den kleinen Ort im niederösterreichischen Industrieviertel. »Corona« wird in medizinischen Diskursen beschrieben als ein bisher unbekannter und nicht nur deshalb gefährlicher Erreger, der einerseits mit einer Übersterblichkeit einhergeht, andererseits bei sehr vielen Menschen still und symptomlos verläuft. Die Angst vor einer Ansteckung hat in einer global mehr und mehr synchron geordneten Welt zu einer Vielzahl von Reaktionen geführt, deren Folgen im sozialen wie im psychischen Leben weder ausreichend erkannt noch beschrieben sind.

»Corona« drückte bereits im Frühjahr 2020 in Art und Ausmaß eine Veränderung der Welt aus wie schon lange kein Wort mehr. Es steht seither für großen Abstand, für einschneidende Eingriffe in die Zwischenleiblichkeit, für Verhüllungen des Gesichts, für beunruhigend veränderte Berührungsordnungen, für erwartbare biopolitische Strategien. Die ubiquitär kommunizierte potentielle Lebensbedrohung vieler Menschen trägt weiterhin zu einer großen Verbreiterung des Feldes für solche Strategien bei. Weltweit haben sich Raumordnungen durch Ausgangssperren und Grenzschließungen passager verändert. Digitale Räume werden in einem bisher unbekannten Ausmaß neu besiedelt. Das ethische Verständnis von Nähe und Fürsorge erweist sich als fragwürdig, Vulnerabilitäten werden anders bewertet. Kollektive Rückzüge sind zu beobachten und begleiten eine verordnete Vertreibung in eine vereinzelnde Privatheit. Sozioökonomische Asymmetrien geraten verstärkt ins Scheinwerferlicht, machen dem Reden über kapitalistische Wachstumsprinzipien den Rang streitig. Neue Worte, neue Narrative werden gelernt: Niemand konnte vor einem Jahr wissen, was das Kürzel K1 (abgesehen von einem hohen Berg) heute bedeuten wird. In einer Rhetorik, die breit zwischen Verharmlosung, Verschwörung und Schuldzuweisung oszilliert, werden erst seit einigen Monaten Subjekte anhand ihrer Systemrelevanz oder ihrer Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe unterschieden. Und der feine Hintersinn angeblich neuer Normalitäten sickert nur langsam in das System der Sprache ein.

Auf die erste Ansteckungswelle im Frühjahr 2020 konnten Regierungen mit der Verordnung eines wochenlangen Lockdown reagieren, weil die Bevölkerung aus Todesangst diese Maßnahme bereitwillig akzeptierte. Damit verbunden war freilich ein schwerer Eingriff in die bürgerlichen Grundrechte, der Menschen an den Rand des Verlustes ihrer materiellen und seelischen Existenz oder gar noch weitergetrieben hat. Betriebe mussten schließen, und zwar aus Gründen des Gemeinwohls und nicht, weil die Inhaber konkret ansteckungsverdächtig gewesen wären. Ihnen wurde ein Sonderopfer abverlangt.

Inzwischen hat in vielen Ländern der dritte Lockdown begonnen. Der öffentliche Diskurs steht den neuerlichen Verordnungen eines Ausnahmezustands deutlich kritischer gegenüber als im vergangenen Frühjahr. Der Staat darf nicht in der allgemeinen legitimen Absicht, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, jedweden Grundrechtseingriff von beliebiger Schwere vornehmen. Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte in den deutschen Bundesländern haben bereits spezifische Grundrechtsbeschränkungen, etwa das Beherbergungsverbot, die Sperrstunde oder absolute Versammlungsverbote, wegen ihrer Rigorosität für unverhältnismäßig erklärt, teilweise sogar für offensichtlich rechtswidrig. Das Übernachten in Hotels oder der Aufenthalt in Restaurants nach 22 oder 23 Uhr müsste für solche Verbote faktisch dazu beitragen, die Verbreitung der Infektion zu befördern. An diesem Zusammenhang wird aus guten Gründen gezweifelt.

Seit langem bzw. im Anschluss an den Niedergang religiöser Autorität in westlichen Industriegesellschaften wird das Gewaltmonopol des Staates von Repräsentantinnen und Repräsentanten unterschiedlicher wissenschaftlicher Fachbereiche gestützt. Empirische Formen von Wissenschaft und mit ihr die Medizin haben die Deutungsmacht von Religion bereitwillig übernommen. Die daraus folgende Sorge vor zu großer Macht der Gesundheitsämter oder sonderbeauftragter Statistiker lässt manche befürchten, dass das Gesamtgefüge politischen Funktionierens, ja die Demokratie in Gefahr geraten könnte.

Philosophie ist wie Psychoanalyse eine nachträgliche Aktion. Beide haben in der Regel mehr mit Nachdenken als mit Vordenken zu tun. Was dieser gegenwärtige Zustand bedeutet haben wird, lässt sich bestenfalls in Umrissen erkennen. Es könnte sein, dass sich vorhandene Konstellationen und Probleme nur mit größerer Deutlichkeit und Dringlichkeit zeigen, wie Gesa Lindemann in ihrem, im vorliegenden Journal von Ulrike Kadi rezensierten Text (Die Ordnung der Berührung. Staat, Gewalt und Kritik in Zeiten der Coronakrise, Weilerswist: Velbrück 2020) behauptet. In kollektiven Stimmungsbildern zeigt sich freilich derzeit auch oft eine Panik, ganz so, als stünden wir am Rande eines Abgrundes eines möglichen Verlusts von Ordnung wie in Steven Soderberghs die gegenwärtige Situation in vielerlei Hinsicht spukhaft vorwegnehmendem Thriller Contagion (2011).

Mit seiner Nummer 54 versucht das Journal Phänomenologie einen Beitrag zum Verständnis einzelner Elemente der Situation zu leisten. Ein phänomenologischer Zugang ist dafür besonders geeignet, verspricht er doch vermittels der phänomenologischen Reduktion eine gewisse Distanz zu der Verstricktheit in eine Situation, die angstbesetzt und unübersichtlich ist. Es gilt, einschneidende Veränderungen unseres Zur-Welt-Seins zu beschreiben, zu interpretieren und zu analysieren. Dieser Aufgabe haben sich in diesem Schwerpunktheft fünf Autorinnen und Autoren gestellt.

Die Vulnerabilität des Menschen und des Lebens ist ein zentrales Thema, das durch die Corona-Krise und die zahlreichen Toten in Bergamo, die wie ein Geschichtszeichen für diese Krise stehen, verstärkt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten ist. Martin Huth unterscheidet in seinem Artikel eine fungierende von einer thematischen Vulnerabilität, deren Anerkennung von hegemonialen Deutungsmustern und einer stets selektiven Ordnung der Sichtbarkeit abhängt. Der Beitrag von Martin W. Schnell erschließt am Leitfaden der Vulnerabilität aus medizinethischer Sicht das Problem des Umgangs und der Bewertung der Corona-Krise, die beileibe keine rein medizinische Problematik ist. Christina Schües führt diese Betrachtung weiter, indem sie danach fragt, wie wir mit Corona und angesichts unserer Verletzlichkeit, Gefährdung und einer fehlenden Immunität leben können. Diese Frage enthält ein Problem, weil sie diverse Paradigmen aufeinander bezieht, die möglichweise unvereinbar sind. Vulnerables Leben kann nicht allein durch eine biomedizinische Perspektive zureichend beschrieben werden.

Wie mit dem Tod und den vielen Toten in der Corona-Pandemie umgehen? Dorothée Legrand weist in ihrem Text, der aus einer französischen Perspektive geschrieben ist, darauf hin, dass der Tod im Gefolge einer Corona-Erkrankung die Ungleichheit unter Sterblichen erheblich vergrößert. Außerdem macht sie darauf aufmerksam, dass dem zweiten Tod, der Trennung der Verbindung zwischen zoè und bios, gegenwärtig besondere Aufmerksamkeit zukommen muss. Andernfalls riskieren wir einen Tod ohne Reste, der kein menschlicher Tod mehr wäre. Auch Burkhard Liebsch zeigt, dass in der Corona-Krise die Kultur des gelebten Lebens und der menschlichen Sterblichkeit selbst auf dem Spiel steht. Angesichts eines durchgreifenden Bewusstseins der Sterblichkeit soll durch Kontaktverbote Leben gerettet werden. Wenn es sich dabei nicht nur um nacktes, biologisches Leben, sondern um ein soziales Leben handeln soll, dann müsste die Chance ergriffen werden, danach zu fragen, welcher Art dieses zu rettende Leben sein soll.

Es sind mehr Fragen als Antworten, die sich mitten in der Corona-Krise ausbreiten. Hierin unterscheidet sich die gegenwärtige Situation freilich nicht von anderen.