Poesie als Möglichkeit der Begegnung

Jörg Sternagel (Zürich/Berlin), Selin Gerlek (Fribourg/Wuppertal)

Le poème – cette hésitation prolongée entre le son et le sens.
Paul Valéry

Poesie ist mit ihrer schöpferischen Sprache unterwegs zu einem Gegenüber. Sie spricht sich ihm zu und ermöglicht ein Gespräch, Kontakt, eine Begegnung. Ihre Weise des Sprechens ist eine für die Anderen. Sie wendet sich ihnen zu, schenkt ihnen Aufmerksamkeit, gibt sich und er-greift sie. Poesie eröffnet Räume und Zeiten der Alterität und ermöglicht darin ein ethisches Sprechen, das sich selbst immer und immer wieder von sich beanspruchen lässt, sich hinterfragt, an sich selbst zweifelt, sich revidiert und sich verändert, ohne sich auf eine Bedeutung, eine Lesart, eine Interpretation und damit auf eine Identität oder Ordnung festzulegen. Im Zuge dessen lotet das Sprechen der Poesie die Grenzen der jeweils eigenen sprachlichen Verfasstheit jedes Mal von Neuem aus, um das Sagen im Gesagten hörbar zu machen. Es unterminiert die Logik sprachlicher Regeln und unternimmt etwa in der Syntax Brüche, Störungen, Verformungen, Verkürzungen und Verschiebungen, die, wie unter anderem auch ihre Hyperbeln, Iterationen und Neologismen, keiner Ontologisierung und/oder Verwissenschaftlichung von Sprache gehorchen. Jedes Wort steht auf dem Spiel und ist nicht mehr unbedingt nur als linguistische Einheit den Regeln der Sprache unterstellt. Vielmehr wird es davon befreit und tritt als Verkörperung einer Idee auf, die zur Sprache kommt, womit es in eins fällt mit der Verkörperung derjenigen, die sprechen. Das Wort wird zum Sprachereignis und ist nicht mehr bloß sekundärer Träger eines Gedankens. Es tritt jedes Mal als zweistimmiges, als halbfremdes Wort auf. Es ist (wie bei Michail M. Bachtin) Replik, indem es zugleich sowohl auf den Gegenstand als auch antizipierend und antwortend auf das fremde Wort gerichtet ist. Das Wort ereignet sich in dialogischer Kommunikation und ist Teil der polyphonen Lebenssphäre von Sprache. Subversiv variiert, verfremdet und verformt können darin auch spontane Sinnbildungen Anderen begreifbar gemacht werden, die nicht in bereits vorgefundene Bedeutungen, Begriffe oder Kategorien eingebunden sind, sondern in Prozessen der Sinnbildung zwischen Erfahrung und Ausdruck, im Wirken überhaupt erst hervortreten und entstehen.

Poesie ist, so pointiert, die außer-ordentliche Form der Sprache, des Ausdrucks, der Schrift und der Lektüre, die mit und durch ihre besondere Form der Anderen bedarf, die mit und durch sie sprechen, formulieren, lesen und schreiben. Sie ist, so wahrgenommen und zurückgebunden, eine sinnliche Praxis, die sich in einem performativen Akt vollzieht und auseinander-setzt und auf diese Weise die Möglichkeit sozialer Begegnung schafft, in der ein Austausch von Erfahrungen stattfindet, der sich, wie gleichsam unser Schwerpunkt, einer Heterogenität verschreibt, um Andere zu Wort kommen, sie ihre Gedanken zu Papier bringen und ihre Stimme erheben zu lassen.

Poesie ist vielgestaltig, vielsagend und vielstimmig. Von Dichterinnen und Dichtern zu Philosophinnen und Philosophen, von Schreibenden zu Sprechenden, von Lesenden zu Hörenden und zurück ergeben sich durch sie ergebnisoffene Dialoge, in denen sich jedes Gegenüber zuallererst bildet, sich verändert und anders wird. Die Sprache der Poesie wird zum Sagen ohne Aus-Sage, durch den Anruf der Anderen mehr als durch die Botschaft; sie wird zur Hinwendung.

Er sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen einem Händedruck und einem Gedicht, schreibt Paul Celan an Hans Bender und eröffnet brieflich ein Gespräch, im Laufe dessen sich das dichterische Ich jemandem zuwendet und den Weg einer Stimme zu einem wahrnehmenden Du einschlägt. Gerade diese Hinwendung macht das Persönliche der Poesie auch jenseits von Brief und leibhaftiger Begegnung aus, denn sie spricht zwar von mir aus, aber in eines Anderen Sache, in eines ganz Anderen Sache. Und sie bzw. das Gedicht ist stets unterwegs – Celan spricht von einem Unterwegs-Sein für eine Begegnung. Jedes Ding, jeder Mensch ist dem Gedicht, das auf das Andere zuhält, eine Gestalt dieses Anderen und versammelt sich um das es ansprechende und nennende Ich. Von Celans beschriebener Hingabe zur Begegnung aus eröffnen sich Fragen danach, ob diese zentrifugale Bewegung zum Anderen die ›Drehachse‹ des Seins sein soll (was etwa Emmanuel Levinas interessiert), oder gar sein Bruch oder sein Sinn? Kann Poesie womöglich als Durchbrechen der bestehenden Ordnung begriffen werden, die alles (bereits) Erfahrene im Prosaischen auszudrücken versucht und daher einst gewesene stumme Erfahrung (was zum Beispiel Maurice Merleau-Ponty durchdenkt) nun einer Unordnung angleicht, die nicht der Welt von Aussagen und Entscheidungen angehört (bei Bernhard Waldenfels, Michel Foucault)? Eignet der Poesie damit eine aisthetische und ethische Kraft, die ein subversives Potenzial schafft, über das sich neue Ordnungen stiften lassen, ohne sich dem Bestehenden, Gewohnten und Konservativen auszusetzen (was zum Beispiel Hélène Cixous und Jacques Derrida pointieren)?

Es ist diese Idee der dialogischen Begegnung und es sind solche Fragen, mit denen wir in unserem Schwerpunkt »Poesie« uns auf Andere zubewegen, auf unsere Beiträgerinnen und Beiträger, die wir mit diesem Text eingeladen haben, uns in unserem Unterwegs-Sein zu folgen, zu begleiten und sich so auf Begegnungen einzulassen, die immer wieder von Neuem die Kraft der Poesie ausloten. Dabei kann offen bleiben, ob dies in direktem oder indirektem Bezug auf unsere einführenden Überlegungen geschieht – die versuchen, den Weg hin zu Anderen zu ebnen, sie zu begrüßen, ihnen als Möglichkeit und wirklich die Hand zu reichen: Poesie als Möglichkeit der Begegnung.

So setzt der Schwerpunkt zunächst unharmonisch an: Mit dem Gedicht von I.H. scheint die Unmöglichkeit einer Eintracht unserer sinnlich-leiblichen Existenz abgeschritten zu werden. Was schief klingen mag, erscheint vor dem Hintergrund bemühter Gemeinschaft und bezeugt ein Unterfangen vereinzelt bleibender Widerstände. Das Band knüpft einzig der Klang der Poesie – mag er auch noch schief sein und bleiben. Bei Selin Gerlek (Fribourg/Wuppertal) ist es Derrida, der für Celan das Losungswort spricht, Schibboleth, das durch ihn, durch sein Wort dem einzigartig Anderen gegeben oder versprochen ist, von wo aus sich ein Gespräch eröffnet, nicht nur zwischen dem Selbst und den Anderen, der Stimme und der Schrift, sondern auch dem Gedicht und der Übersetzung. Volkmar Mühleis (Brüssel) schreibt, notiert und dichtet über seine Treffen mit Rudolf Boehm in Gent. Es entstehen phänomenologische Skizzen, die am Boden der Lebenswelt haften, sich aber auch von ihm lösen, enthoben werden, denn der Blick mit Boehm in die Vergangenheit, auch auf seinen Studenten Jan Hoet, verschränkt sich mit einem Blick auf Zukünftiges, auf den Entzug des eigenen Leibes, auf die unabänderliche Vergänglichkeit. Jessica Sequeira (Cambridge/Santiago) schaut in ihrem Gedicht in die Ferne, auf das Firmament, auf Himmelskörper, von denen aus sie den eigenen Körper mit dichtet, der sich immer wieder in die Strophen mit einschreibt. Dieser Körper kann nicht vergessen werden, er gehört zum Blick nach oben, in die Ferne, mit hinzu. Indem sie Simone de Beauvoir anführt, eröffnet sie in den letzten Versen ein Wechselspiel, das sich um die Sinnhaftigkeit, die Empfindsamkeit und das Erinnerungsvermögen des Leibes dreht.

Einer theoretischen Zuwendung zur Dichtung begegnen wir nach Beiträgen, die sich um leibkörperliche und verwundete Begegnungen bemühen, bei Dieter Mersch (Zürich), der in seinem Beitrag zunächst den »Sprung« als eine Poetik der Findung und Sprache der Dichtung einführt. Beide, Poetik der Findung und Sprache der Dichtung, verbindet eine Irreversibilität, die Mersch mit Paul Celan oder auch Martin Heidegger vorführt. Die Idee eines grundlegenden »Zerarbeitens« buchstabiert die Theorie-Praxis der Dichtung als abgründige Unerfüllbarkeit aus. Dahinter verbirgt sich Merschs Versuch, Differenzfiguren und ihre nötigen Entzugsmomente auf einen Bereich der Kunst anzuwenden, der einzig ein Zuhalten bleiben kann: eben auf den Bereich der Poesie. Dem Versuch, aus dem Jetzt unserer Zeit heraus »eingedenk« der »erlittenen Zeit« Erinnertes zu versprachlichen, widmet sich Jörg Sternagel (Zürich/Berlin), indem er die Möglichkeiten, diesem Einbruch in der Geschichte durch das Dritte Reich zu begegnen, mit den Autoren Georges Didi-Huberman, Walter Benjamin oder auch Stefan Gandler erprobt. Dabei zeigt er die Möglichkeit einer »Ars Memoria« auf, die etwa mit Benjamins Überlegungen zum Angelus Novus, zum »Engel der Geschichte«, nicht nur künstlerisch-poetische Mittel diskutiert, sondern sprachlich selbst inszeniert. Elisabeth Schäfer (Wien) nähert sich dem literarischen Schreiben in der akademischen Philosophie, das dort Staub aufwirbelt, Kritik und Widerworte. Diese können zwar Räume für mögliche Auseinandersetzungen eröffnen, aber auch eine Abwehr implizieren, die Schäfer in der Folge versucht zu dekonstruieren. Nach Paul de Man, Heidegger und Derrida trifft sie auf Didier Eribon, der sich ein Prisma verschiedener Theorien vorstellt, um über jegliche Konsistenz und Vereinheitlichung der Theoriebildung hinauszugehen. Mit Cixous schließt sich daran die unerlässliche Suche nach anderen Strategien, Orten und subversiven Modi an, die in einem anderen Schreiben münden, zu dem auch die Poesie gehört: als Bewegung der Dissemination, nicht länger ihrer selbst, sondern immer schon eines Anderen. Durch diese Bewegung von sich weg, durch den eigenen Verlust, beweint sich das Gedicht und spricht.