Sinnform(en), revisited
Zum Schwerpunkt Dirk Rustemeyer

Petra Gehring (Darmstadt) und
Christian Grüny (Frankfurt am Main/Darmstadt)

Sinn ist ein Grundbegriff der Phänomenologie. Dies ist allerdings selbstverständlich, sogar allzu selbstverständlich: Phänomenolog*innen nutzen »Sinn« zumeist eher als festen Terminus denn als Problemtitel, welcher noch einen fortdauernden Aufforderungscharakter behielte – einen, der sowohl der theoretischen Rückvergewisserung als auch der Ausbuchstabierung, der Konkretisierung bedarf. Daher sind die Auseinandersetzung und auch die Arbeit mit dem Sinnbegriff in der Phänomenologie selten geworden. Umgekehrt fühlt sich die Phänomenologie gar nicht unbedingt angesprochen, wo jemand (neu) mit dem Sinnbegriff experimentiert.

Für eines dieser – sehr wohl relevanten – Experimente stehen seit vielen Jahren die Arbeiten Dirk Rustemeyers. Abseits philosophischer oder auch kultur- oder medienwissenschaftlicher Lagerbildungen, im Grunde auch ohne ein sonderliches Interesse einer disziplinären Rubrizierung seines eigenen Werks hat Rustemeyer ein eigenes Begriffsnetz, einen Theoriezusammenhang und auch einen unverwechselbaren Denkstil geschaffen. Dem gut begründeten Selbstverständnis nach handelt es sich dabei um Philosophie, die sich als Kulturanalyse mit semiotischen Mitteln versteht – wobei auch der Semiotik eine ganz eigene Prägung gegeben wird. Mit ebenso guten Gründen könnte man in diesem Theorie- und Analysezusammenhang eine neue Form von »allgemeiner«, metagesellschaftlicher soziologischer Theorie sehen.

Entwickelt wurde diese Theorie im Zuge einander konsequent fortschreibender Monographien – zunächst ausgehend von Luhmann, dann zunehmend aber in eine Kultur- und Kunsttheorie einmündend, die zwischen Phänomenologie und Semiotik oszilliert – und in diesen Feldern erfolgt dann das exemplarische Arbeiten. Konkretisierung ist freilich nicht Anwendung. Es führt keine Sinnrutsche zu den Dingen oder Phänomenen. Vielmehr mündet Kulturreflexion darin, was ihr Ausgangspunkt und Ziel zugleich ist: eine Erfahrung, an die Reflexion nicht nachträglich und von außen herangetragen werden muss. Eben hieraus bezieht Rustemeyers Philosophie, die sowohl Formtheorie als auch Phänomenologie der Sinnformen sein will, ihre erstaunliche Energie.

Auch wenn wir wissen, dass viele Leserinnen und Leser die Texte Rustemeyers (noch) nicht kennen, mögen diese skizzenhaften Bemerkungen zur Hinführung genügen. Eine detailliertere Einleitung bieten die Beiträge selbst: So befragt Petra Gehring (Darmstadt) die Wahl von »Kultur« als Leitbegriff und damit zusammenhängend den Allgemeinheitsanspruch und die Ebenenwahl von Theorie, Christian Grüny (Frankfurt am Main/Darmstadt) vollzieht den Übergang von der formalen Großtheorie zu den konkreten Analysen nach, Ludger Fittkau (Darmstadt) versenkt sich in den Reichtum von Ordnungen des Wirklichen, dem jüngsten Buch Rustemeyers, Maren Lehmann (Friedrichshafen) wendet sich mit systemtheoretisch geschultem und von Rustemeyer inspiriertem Blick dem Film Solo Sunny zu und Sebastian Manhart (München/Trier) untersucht mit den Praktiken des Messens und Rechnens ein den Rustemeyer’schen Gegenständen komplementäres Feld.

Ausgangspunkt des Themenschwerpunkts war ein Kolloquium zu Dirk Rustemeyers Arbeiten, das am 14. und 15. Juni 2019 im der Situation Kunst der Ruhr-Universität Bochum stattfand. Dank einer Intervention des Künstlers Dirk Hupe (Mülheim an der Ruhr) sind auf dieser Veranstaltung neben philosophischen Vorträgen und Diskussionen auch von den Teilnehmern auf der Basis eines gedruckten Rustemeyer-Textes produzierte Textcollagen entstanden. Eine Auswahl dieser Collagen sowie ein Beitrag von Dirk Rustemeyer selbst runden den Themenschwerpunkt ab.