Differenziertes auf differenzierte Weise. Zum Schwerpunkt Bernhard Waldenfels

Zu behaupten, die Beiträge dieses Schwerpunktheftes seien eine »Antwort« auf das Werk des Phänomenologen Bernhard Waldenfels, dem sich bekanntlich neben vielem anderen der Gedanke einer »responsiven«, also einer antwortenden oder antwortgeneigten Rationalität verdankt, wäre eine Plattitüde – und es wäre auch in der Sache falsch. So leicht antwortet es sich nicht. Und zumal nicht in der hier gewählten Prosaform des kurzen, auf einen Aspekt sich festlegenden Essay.

Sprechen wir also von Ansteckungseffekten. Waldenfels’ Werk ist nicht zuletzt auf solche ausgelegt und ist ja dann seinerseits auch wieder großzügig in der Aufnahme von Gesprächsstoff, der aus Reaktionen auf seine Philosophie besteht. So ist vor kurzem Erfahrung, die zur Sprache drängt, ein Buch zu Fragen der Psychologie und Psychoanalyse, erschienen.[1] In den letzten Jahren wurde gerade in diesem Feld intensiv auf das Paradigma der Responsivität eingegangen. Dass dessen Grundgedanke sich seinerseits – nicht nur, aber auch – der intensiven Rezeption früher, phänomenologisch arbeitender Psychologen verdankt hat, ist kein Geheimnis. In einem ausführlichen Gespräch, »Phänomenologie braucht einen langen Atem«, hat Waldenfels unlängst auf die in ihrer Bedeutung nach wie vor unterschätzte und in der Nachkriegszeit in Deutschland auch totgeschwiegene Tradition der Gestalttheorie reflektiert.[2] Ein weiteres Feld, auf dem Waldenfels vergessene Theoriebestände aktiviert und mit großen Resonanzeffekten in neue Diskussionen eingebracht hat, ist verbunden mit dem Begriff des Fremden. Quer zur einschlägigen empirischen oder auch am Kulturbegriff sich entlanghangelnden Normalwissenschaft hat er die Phänomenologie als Fremdheitswissenschaft neu entdeckt.[3] Und so hat er sich in seiner phänomenologischen Arbeit immer wieder auch von Anderem und Fremdem »anstecken« lassen. Wo Erfahrung als von Widerfahrnissen geprägt verstanden wird, treten unweigerlich die Künste und die mit ihnen verbundene ästhetische Erfahrung dem Denken zur Seite. Es ist daher kein Zufall, dass gerade die Künste – Dichtung, Malerei, Musik, Architektur – bei Waldenfels stets präsent sind.[4]

Was ihre Methodologie angeht, ist die phänomenologische Arbeit, auch wenn es eine Fülle von kanonischen Methodenbegriffen gibt (»Einstellung«, »Epoché«, »Reduktion«, »Variation«, »Rückfrage« …), auf so etwas wie eine permanente Neuerfindung angewiesen – rezeptartig anwenden kann man ihre Verfahren nicht. Das hat auch damit zu tun, dass es ohne ein konkretes Forschungsanliegen, ohne »Sachen«, als bloße abstrakte Methodik also, phänomenologisches Philosophieren gar nicht erst gibt. »Beschreibung« – und zwar das Ringen darum, um gutes Beschreiben – ist vielmehr Teil des phänomenologischen Projekts. »Phänomenologie« bedeutet für Waldenfels, »dass differenzierte Erfahrungen auf differenzierte Weise beschrieben werden«. So lautet eine der charakterisierenden Bemerkungen, die Waldenfels im selben Gespräch fallenlässt. Eine hinreichende Bestimmung ist dies sicher nicht, aber es markiert eine wichtige Blickrichtung: Genauigkeit und Differenzierung gleich mehrfach: in der Sache wie aber auch in der Sprache, in der sie sich wiederfinden soll. Und vielleicht ist mit der Aufgabe, sich sprachlich mit der phänomenologischen Theorie auseinanderzusetzen, gleich ein nochmaliger Differenzierungsbedarf verbunden: Differenzierung des Differenzierens von Differenziertem – und so fort, möchte man hinzusetzen. Nennen wir dieses komplexe Spiel »Denken«? »Wissenschaft«? »Weisheit«? Alles dies, ganz sicher. Auch aber: Poesie. Auch dies kann man bei Waldenfels lernen.

Anmerkungen

[1] Bernhard Waldenfels: Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht, Berlin 2019.

[2] Vgl. »Phänomenologie braucht einen langen Atem«. Bernhard Waldenfels, interviewt von Petra Gehring und Andreas Gelhard, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 65, Heft 6 (2017), S. 1109–1126.

[3] … und philosophische Überlegungen an die Einzelwissenschaften zurückgegeben. Vgl., weniger bekannt als seine einschlägigen Monographien, Bernhard Waldenfels: Art. »Xenologie; Wissenschaft von Fremden«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 12, Basel 2004, Sp. 1105–1110.

[4] Vgl. etwa die Beiträge in Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt am Main 1999 und ders.: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Berlin 2010.