Georg Simmel – Einführende Bemerkungen zum Schwerpunkt

Andreas Großmann (Hamburg), Martin W. Schnell (Gelsenkirchen)

Georg Simmel (1858–1918) ist ein Klassiker der Moderne. Die Gesamtausgabe seiner Schriften umfasst 24 Bände, deren Edition das Herausgeberteam um Otthein Rammstedt 2016 abschließen konnte. Pünktlich zum Simmel-Jubiläumsjahr ist überdies das von Hans-Peter Müller und Tilman Reitz herausgegebene Simmel-Handbuch im Suhrkamp-Verlag erschienen.[1] Der Weg zum anerkannten Klassiker der Soziologie ist allerdings sehr mühselig gewesen, Simmel selbst hat ihn nicht miterleben können. »Für das Kaiserreich waren Simmels Einsichten zu avantgardistisch und deshalb anstössig.«[2]

Simmel wird in Berlin geboren, als die Stadt kurz davor gewesen ist, die pulsierende Metropole zu werden, die auch Alfred Döblin in seinem Roman Berlin Alexanderplatz beschrieben hat. Die Stadt ist ein Laboratorium des modernen Lebens, das ausprobiert, was das moderne Leben sein könnte oder möchte. Den entsprechenden Versuchen entnimmt der Diagnostiker Simmel die zahlreichen Phänomene, denen er zeit seines Lebens nachgegangen ist: Schmuck, Geld, Kunst, Leuchtreklame, Mode, Individualität, Fremdheit, Treue, Armut und vieles andere mehr.

Simmel war als akademischer Lehrer sehr beliebt. Gleichwohl blieb er als Jude in der akademischen Welt ein zum Teil auch angefeindeter Außenseiter. Erst im Jahre 1914, vier Jahre vor seinem Tod, erhielt er die erste Berufung auf eine ordentliche Professur, und zwar fernab von jeglicher Metropole in Straßburg.

Im Frühwerk erweist sich Simmel als Nachfahre von Marx und anderen Beobachtern der Moderne. Er vertieft die Einsicht, dass es zum gesellschaftlichen Zwang einer Individualisierung kommt, die Traditionen zerstört und für jeden die Anforderung bedeutet, Verbindlichkeiten selbst herstellen zu müssen. Simmel akzeptiert die von Émile Durkheim vertretene Ansicht, dass die Gesellschaft eine Realität sui generis ist. Er geht darüber auch hinaus, indem er sich für den Prozess der Vergesellschaftung und die Formen der sozialen Wechselwirkungen interessiert.[3]

Individuelle Freiheit wird, so Simmel später, von den Möglichkeiten der Geldwirtschaft bestimmt. Zwar erweist sie sich seit der Landflucht als Unabhängigkeit von Zwängen der Traditionen, sie ist aber auch ohne inneres Ziel. Das Geld macht alles (aus)tauschbar und wird damit zur bestimmenden Geltungsform, die alles und jedes nivelliert. Es ist wichtig, dass sich der Tausch als universeller Vorgang konstituiert, denn nur, wenn es etwas zu tauschen gibt, hat das Geld einen Wert.

Unter der Oberfläche der unbehaglichen Kultur sucht Simmel indes eine metaphysische Tiefenschicht, die eine Ganzheitlichkeit offenbart. Rembrandt und Goethe stehen für diese Perspektive. Goethe wird als Gegenspieler von Kant präsentiert, da er dem menschlichen Verstand keine Zweckrationalität zuerkennt, sondern vielmehr ein vitalistisches Weltgefühl.[4] Simmel rückt in Distanz zur Kunst seiner Zeit und damit auch zur Dynamik der fragmentarisierenden Kultur.

Kultur bedeutet für Simmel, dass zwei Elemente zusammenkommen: die subjektive Seele und das objektive geistige Erzeugnis. Was einmal lebendige subjektive Intention war, verwandelt sich in Kulturgut. Obwohl sie die Herkunft ihrer menschlichen Erschaffung sozusagen noch mit sich führt, kann diese objektive Kultur den Individuen wiederum als Zwang gegenübertreten und ihren Produzenten, den Menschen, affizieren. Weil dieser Prozess Kultur ausmacht, ist er und ist mit ihm die »Tragödie« nicht zu umgehen. Simmel insistiert derart auf den Ambivalenzen und Widersprüchen modernen Lebens, für die es einfache Lösungen nicht gibt: »Der Mensch wird jetzt der bloße Träger des Zwanges, mit dem diese Logik die Entwicklungen beherrscht und sie wie in der Tangente der Bahn weiterführt, in der sie wieder in die Kulturentwicklung des lebendigen Menschen zurückkehren würden. Dies ist die eigentliche Tragödie der Kultur. Denn als ein tragisches Verhältnis – im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes – bezeichnen wir doch wohl dies: dass die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; dass sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat. Es ist der Begriff aller Kultur, dass der Geist ein selbständig Objektives schaffe, durch das hin die Entwicklung des Subjektes von sich selbst zu sich selbst ihren Weg nehme; aber eben damit ist jenes integrierende kulturbedingende Element zu einer Eigenentwicklung prädeterminiert, die noch immer Kräfte der Subjekte verbraucht, noch immer Subjekte in ihre Bahn reißt, ohne doch diese damit zu der Höhe ihrer selbst zu führen.«[5]

An dieser Diagnose ist kein Zeitgenosse und ist kein Nachfahre vorbeigekommen. Ernst Cassirer versuchte, die Tragödie kulturphilosophisch zu überwinden. Ernst Bloch und Georg Lukács verhielten sich kritischer. Sie entlehnten Simmel Theoreme und verunglimpften die Person. Adorno, der Simmel auch einiges verdankt, hat diese Konstellation in den 1960er Jahren noch einmal ausgeleuchtet.[6]

Das Werk von Georg Simmel leistet keinen direkten Beitrag zur phänomenologischen Philosophie. Ein zweifacher Bezug existiert jedoch sehr wohl. So führten Simmel und Husserl zwischen 1905 und 1918 einen lockeren Briefwechsel.[7] Simmel informierte Husserl über den Fortgang seiner Karriere. Husserl bedankte sich und schickte Simmel im Jahre 1911 etwa einen Druck seiner Schrift Philosophie als strenge Wissenschaft. Darüber hinaus verdanken wir Georg Simmel phänomenologisch relevante Analysen und Skizzen, etwa zum, wie er es nannte, »Geisteswesen« der Großstadt, deren Spuren man bei Heidegger und darüber hinaus ansichtig werden kann. So kann sich die Stadtforschung bis in aktuelle Untersuchungen immer wieder auf Simmel beziehen.[8]

Im Sinne dieses offenen Bezugs zur Phänomenologie verstehen sich die vorliegenden Beiträge zum Werk Georg Simmels als Nachlese zu seinem 100. Todestag am 26. September 2018. »Unter den Klassikern der Soziologie«, urteilt Jürgen Kaube, »war Simmel die geringste Wirkung vergönnt; nicht zuletzt, weil sich politisch und moralisch rein gar nichts aus seinen Gedanken machen ließ. Für eine Zeit, in der alle immer schon wissen, was politisch und moralisch richtig ist, bevor auch nur geklärt wäre, wovon geredet wird, beispielsweise von Fremden, ist Simmel gerade darum eine der nützlichsten Lektüren.«[9] Denn vor aller moralisch-politischen Anklage steht der Versuch, die Phänomene, um die es geht, zu verstehen. Dafür verdanken wir Georg Simmel über die Soziologie hinaus nach wie vor ponderable Denkanstöße.

Anmerkungen

[1] Hans-Peter Müller/Tilman Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch, Berlin 2018.

[2] Hans-Peter Müller, »Vor 100 Jahren starb Georg Simmel – höchste Zeit, ihn wieder zu entdecken«, in: NZZ, 22.9.2018.

[3] Georg Simmel: Das Individuum und die Freiheit, Frankfurt am Main 1993.

[4] Vgl. Georg Simmel: »Kant und Goethe« (1916), in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 10, Frankfurt am Main 1995.

[5] Georg Simmel: Philosophische Kultur, Berlin 1984, S. 203.

[6] Theodor W. Adorno: »Henkel, Krug und frühe Erfahrung« (1965), in: ders., Noten zur Literatur IV, Frankfurt am Main 1974.

[7] Vgl. Kurt Gassen/Michael Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958, Berlin 1958, 2. Aufl. 1993.

[8] Vgl. etwa Harald A. Mieg et al. (Hg.): Georg Simmel und die aktuelle Stadtforschung, Wiesbaden 2011, und Sybille Frank et al. (Hg.): Städte unterscheiden lernen. Zur Analyse interurbaner Kontraste: Birmingham, Dortmund, Frankfurt, Glasgow, Frankfurt am Main/New York 2014.

[9] Jürgen Kaube: »Die Sonderrolle des Fremden«, in: F.A.S., 22.9.2018.