Roland Barthes (1915-1980)

Martin W. Schnell und Tobias Nikolaus Klass

Roland Barthes im deutschsprachigen Raum

Roland Barthes ist im deutschsprachigen Raum heute ein bekannter Autor. Viele seiner Bücher sind in der Kulturphilosophie, der Medientheorie und der Semiologie gegenwärtig. Eine systematische Rezeption seines Werkes ist jedoch durch mindestens drei Umstände stark behindert worden. Barthes galt erstens als Anti\-humanist. Lange Zeit war mit seinem Namen eine einseitige Lektüre der Texte über den Tod des Autors (Barthes 1968) und über Die strukturalistische Tätigkeit (Barthes 1963) verbunden (vgl. Ferry/Renaut 1985). Barthes galt zweitens nicht als modern. Den Philosophen waren seine Texte zu literarisch, den Literaten galten sie als zu abstrakt und zu kompliziert. Barthes wurde jenen Autoren zugerechnet, die den sogenannten Gattungsunterschied zwischen Philosophie und Literatur eingeebnet haben und daher nicht zum philosophischen Diskurs der Moderne gezählt werden sollten (vgl. Habermas 1985, S. 224ff). Barthes galt drittens als Poststrukturalist. Er ist der Generation von Foucault, Derrida und Bourdieu zugeordnet worden, die nach 1966 gegen Sartre und sein Umfeld rebelliert haben und einen vergleichbaren Neuanfang zu Wege brachten wie 100 Jahre zuvor die Impressionisten in der Abwendung von der Akademie (vgl.: Schiwy 1984).

All diese Zuordnungen und Vereinnahmungen resultieren aus der Reaktion auf die Verbreitung der französischen Philosophie nach 1980 in Deutschland. Allein an der Tatsache, dass zur damaligen Zeit Roland Barthes bereits zufällig durch einen Unfall verstorben war, ist abzulesen, dass seine Anfänge anderswo liegen als in jenen Schubladen, in die er angeblich gehöre. Barthes ist älter als Foucault und hatte im Unterschied zu vielen der 66er-Generation bereits ab Mitte der 50er Jahre mit der Veröffentlichung erster und zum Teil wichtiger Werke begonnen (Le Degré zéro de l’écriture, 1953; Michelet par lui-meme, 1954; Mythologies, 1957; Sur Racine, 1963). In Frankreich liegen heute seine Gesammelten Werke vor, in Deutschland nicht. Zu seinem 100. Geburtstag sind in deutscher Übersetzung die Biographie von Tiphaine Samoyault (Samoyault 2015), eine Würdigung von Hanns-Josef Ortheil (Ortheil 2015) und Sammlungen von Texten Barthes’ aus den 70er Jahren erschienen (Barthes 2016 a, b).

Wenige Sätze zur Biographie

Roland Barthes wurde 1915 in Cherbourg, dem nördlichsten Zipfel Frankreichs, geboren. Er wuchs zeitweilig im Südwesten auf, wo er noch als Erwachsener ein Ferienhaus unterhalten hat. Barthes verbringt als junger Mann einige Jahre in Sanatorien, um eine Lungentuberkulose aus zu kurieren. Im Jahre 1977 wird Barthes, wiewohl ihm diese Krankheit den klassischen Weg durch die Eliteschulen Frankreichs unmöglich gemacht hat (vgl. Ette 2011, S. 70), nach vielen Umwegen auf Vorschlag Michel Foucaults hin auf den Lehrstuhl für Literarische Semiologie ans Collège de France in Paris berufen. Es ist bekannt, dass Barthes homosexuell gewesen ist. Nachdem er früh seinen Vater verloren hatte, unterhielt er lebenslang eine innige Beziehung zu seiner Mutter, die 1927 einen zweiten Sohn als eine fruit de la liaison gebar und die drei Jahre vor ihrem ersten Sohn Roland gestorben ist.

Einige Bemerkungen zum Werk

Das klassische, vermutlich sehr deutsche Konzept, demnach ein Autor eine Bildungsgeschichte durchläuft, die in Entwicklungsphasen darstellbar ist, lässt sich auf Roland Barthes nicht anwenden. Barthes entscheidet sich geradezu für eine Form der Inkohärenz. Trotzdem gibt es natürlich Entwicklungslinien, die sich nachzeichnen lassen, wie im Folgenden anhand verschiedener Stichworte vorgeführt werden soll.

Schreiben

Mit seinem Erstling Am Nullpunkt des Schreibens stellt Barthes Begriff und Sache des Schreibens in den Mittelpunkt. Damit gab er den Debatten der nachfolgenden Jahrzehnte ein Stichwort. Für ein Schreiben, das quer zu Sprache und Stil steht, eröffnen sich Wahlmöglichkeiten, denn der ausgemachte Nullpunkt ist ein Ort, der der Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Literatur vorausgeht. Eine von hier ausgehende Schreibweise hat Roland Barthes vielfach vorgeführt, so etwa in seinen berühmten Text über den Eiffelturm (1964).

Mythologie

In seinem bekanntesten Buch versucht Barthes populären und hochkulturellen Mythen des Alltags mithilfe der Semiologie auf die Spur kommen. Er zeigt, dass der Strukturalismus zum Verständnis des kulturellen Lebens beitragen kann. Zudem ist sein Unternehmen ideologiekritisch ausgerichtet. Es entlarvt, dass die vom Mythos als normal und natürlich dargestellten Phänomene in Wirklichkeit gemacht, geworden und vergänglich sind. Das Aussehen gewöhnlicher Menschen im Alltag folgt wie ein Abbild den Vorgaben von Kino und Modephotographie. Wenn sich die Mode ändert, dann entsteht ein neuer Menschentyp mit neuer Tiefenmorphologie.

Kritik und Wahrheit

Ein weiterer, auch der öffentlichen Auseinandersetzung geltender Schwerpunkt ist der Bereich der Kunst und Literaturkritik, in dem Barthes als streitlustiger Zeitgenosse aufgetreten ist. Von Bedeutung war für ihn stets das avantgardistische Theater, das er in seinen Essais critiques (1964) behandelt. Zu erwähnen ist, dass er 1954 Aufführungen des Berliner Ensembles von Brechts Mutter Courage besucht hatte.

In seinen Aufsätzen Sur Racine (1963) tritt Barthes für eine plurale Sprache der Interpretation eines Kunstwerkes ein, das er, wie auch Umberto Eco, als ein offenes betrachtet. In den frühen 60er Jahren löste diese Sicht einen Skandal aus, der bis in den Mai 68 ausstrahlte. Hatte Barthes doch die Heiligkeit der Tradition und ihre Mythenbildungen angegriffen. In Raymond Picard, dem Herausgeber der Schriften Racines in Frankreich, fand Barthes einen Antagonisten, der als Verteidiger der Tradition auftrat. Barthes spitzte die Kontroverse zu, indem er zwei Arten der Kritik voneinander unterschied und der scheinbar objektiv-wissenschaftlichen Literaturkritik der Traditionalisten nachwies, dass sie die bürgerliche Ideologie in die Auslegung der Tradition einschmuggelt (Barthes 1964, S. 255ff; Barthes 1967). Ihr setzt er unter anderem eine »phänomenologische Kritik« (Barthes 1964, S. 260) entgegen, die die Regeln bei der Ausarbeitung des Sinns eines Werkes enthüllen soll. Damit war die Tradition als Hüterin der Wahrheit entmachtet. Produkte der Kunst geben keine fertigen Antworten, sondern werfen eher Fragen auf und fordern zu Auseinandersetzungen heraus. Das gilt für die Literatur ebenso wie für die expressionistische Malerei Cy Twomblys.

Text

Während der Begriff des Textes in der deutschen Philosophie nahezu keine Bedeutung hat, verhält es sich in der französischen Philosophie völlig anders. Roland Barthes, der sich Anfang/Mitte der 1960er Jahre der Tel-Quel-Gruppe anschloss, in der der »Text«-Begriff bzw. die Idee der »Textualität« eine zentrale Rolle spielte, hat ohne Zweifel einen wichtigen Anteil daran (vgl. Ette 2011, S. 112). Damit der Text von Bedeutung sein kann, darf er weder einfach nur als Träger von Sinn, der eigentlich untextlich ist, noch als Abbild einer zeichenfreien Wirklichkeit verstanden werden. In Das Reich der Zeichen befragt Barthes mit einem gewissen ethnologischen Unterton eine morgenländische Kultur: Japan. Das Japan, das präsentiert wird, ist ein Reich der Zeichen, das die Diskurse von Text und Wirklichkeit sowie von Fiktion und Realität überschreitet. Da die Straßen keine Namen haben, werden zum Zweck der Orientierung Skizzen verfasst und das in Form von Texten, die Schrift und Malerei in eins sind. An manch radikaler Stelle polemisiert Barthes, dass der Text quasi die Welt ist, sich selbst verfertigt und auf ein Subjekt nicht angewiesen sei.

Zum Spätwerk

In sein Spätwerk schmuggelt Barthes das Leben in Gestalt einer gewissen Form von Subjektivität wieder stärker in die Welt des Textes ein – sei es in Gestalt des Liebenden in seinem Bestseller Fragmente einer Sprache der Liebe oder als Selbstinszenierung. Im Jahre 1975 erscheint seine experimentelle Autobiographie Roland Barthes par Roland Barthes (deutsch unter dem Titel Über mich selbst). In ihr werden Beobachtungen, persönliche Erinnerungen, Fotos, familiäre Angelegenheiten und wissenschaftliche Fragen zu einen Textgewebe versponnen, in dem Roland Barthes als Romanperson sichtbar wird. Zu Beginn seiner autobiographischen Inszenierung präsentiert der Autor zu seinem eigenen Vergnügen zahlreiche Fotos, die einen retrospektiven Blick auf die gewesene Welt gestatten. Der Blick auf die Zeit, auch auf die Zukunft, von der Vergangenheit und der Sterblichkeit her, ist ein Thema in den letzten Schriften Roland Barthes’. Ausgelöst durch den Tod seiner Mutter verfasste der Sohn ein Tagebuch der Trauer. In die Helle Kammer, veröffentlicht wenige Wochen vor Barthes’ eigenem Tod, befasst sich der Autor mit der Fotographie als Zeugnis eines dagewesenen Lebens. Barthes kommt der Phänomenologie hier sehr nahe – nicht nur aufgrund seiner Beschäftigung mit Problemen der Zeitlichkeit, sondern auch durch seine Befassung mit dem Problem der Sinnbildung und der Leiblichkeit (die Rolle des Körpers im Prozess der Sinnbildung ist ein Motiv, das Barthes’ Schreiben seit den frühen Jahren in verschiedendsten Variationen wie ein Grundton durchzieht). Eine Auseinandersetzung mit dem Zeugnis einer Photographie geschieht als Übergang von einer Affektion (punctum) zum Verstehen (studium). Auf subtile Weise entfaltet sich dabei eine Dialogizität. Die Affektion spricht das Verstehen an und geht über endgültige Deutungen hinaus. Barthes bleibt seiner Kritik an der positivistischen Kritik treu. In seiner Vorlesung Vorbereitung des Romans nimmt eine Orientierung an der Phänomenologie weitere Formen an. Er arbeitet dort ein Noema der Photographie heraus und Aspekte einer Phänomenologie des Sehens. Insgesamt rückt Roland Barthes in seinem Spätwerk von manch überstarker Betonung von Text und Zeichen zugunsten einer phänomenologischen Perspektive ab.

Aufbau des Schwerpunktes

Die hier vorliegenden Beiträge zum Werk von Roland Barthes verfolgen keine gemeinsame, thematische Frage im engeren Sinne, sondern befassen sich in pointierten Ausführungen mit verschiedenen Themen und Facetten des Werkes im Sinnes eines Nachgangs zu Roland Barthes’ 100. Geburtstag im Jahre 2015. Gemeinsam ist allen Beiträgen gleichwohl die Einsicht, dass Roland Barthes einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis der Moderne und ihrer kulturellen Phänomene und Zeichen, die das gesamte Leben vermitteln, geleistet hat. Der Aufbau des Schwerpunkt bezieht sich in lockerer Art auf Entwicklungslinien in Barthes’ Werk und tendiert in Richtung von Motiven einer praktischen Philosophie. Zwischen Früh- und Spätwerk spannen sich Linien, die formelhaft als Wege vom Forscher zum Schriftsteller, vom Beobachten zur Praxis, vom semiologischen Abenteuer zur einer Artikulation von Subjektivität beschrieben werden können (Ortheil in: Barthes 2016a, S. 201). Für diese Beobachtung spricht, dass Barthes in Werken und Fragmenten, die in seinen letzten fünf Lebensjahren entstanden sind, zunehmend das Vokabular der Phänomenologie übernimmt und sich anverwandelt. Eine performativen Wende, wie im Falle Derridas, lässt sich bei Barthes nicht finden, aber doch Anschlüsse, die für die praktische Philosophie interessant sind.

Dirk Baecker geht im Ausgang von Roland Barthes der Logik des Mythos nach und liest sie aus systemtheoretischer Sicht. Er spricht vom Mythos System und skizziert damit eine Logik, die als Kybernetik zweiter Ordnung auftritt und die Beziehung zwischen Beobachter und Gegenstand thematisiert, um darin Spielräume zu erhalten, die wissenschaftstheoretisch, aber auch empirisch zu nutzen sind.

Tobias Klass untersucht Beziehungen zwischen Foucault und Roland Barthes. Er zeigt, dass Barthes von Foucault die Thematik der Macht herrschender Diskurse aufnimmt und eigenständig verarbeitet. Er sucht dabei von vornherein nach einem Jenseits der Macht, das er in seinem Spätwerk in Anknüpfung zugleich an und in Abgrenzung von Foucaults Reflexionen zum Panopticon in der Utopie der »Idiorrhythmie« findet.

Matthias Kettner und Alina Valjent zeigen, dass wir in dem Semiotiker einem bestimmten Roland Barthes begegnen, der in seiner Beschreibung Japans, das er als ein Reich der Zeichen bezeichnet, bei der Arbeit beobachtet werden könne. Dabei bringe er eine der Hermeneutik gegenüber kritische Einstellung mit, die es ihm ermögliche, das Fremde der Kultur Japans zu erfassen. Allerdings führen, so die kritische Bemerkung, die Beschreibungen der Kulturphänomeme nicht zu einer kohärenten Auffassung von Semiotik.

Alfred Hirsch stellt die Ambivalenz des von Barthes skizzierten Diskurses der Liebe dar. Goethes Werther hat wie kaum ein anderer Text buchstäblich vorgeschrieben, was Liebe ist. Gleichwohl ist daraus nicht zu schließen, dass die Sprachfiguren die Liebe maßgeblich hervorbringen, weil sich der Liebende immer auch als ein Anderer erweist, dessen Andersheit darin besteht, im System keinen Platz zu finden und damit außerhalb zu bleiben.

Claus Volkenandt inszeniert ein Gespräch zwischen Roland Barthes und der Künstlerin Vera Lutter über Theorie und Praxis des Photographierens. Beide Personen kannten einander nicht persönlich, dennoch ist es möglich, anhand der Fotoarbeiten der Künstlerin Vera Lutter die Auffassung Barthes’ zu verdeutlichen, das Fotos Bilder ohne Code sind und auf die Differenzen von Sehen und Lesen und ebenso auf den Zusammenhang von Realität und Vergangenheit verweisen.

Martin W. Schnell geht den Spuren einer Rehabilitierung von Subjektitvität in Roland Barthes' Spätwerk nach. In ihnen findet er Elemente des Ethischen, die in Richtung einer Ethik der Erinnerung weisen.

Julia Genz und Paul Gévaudan befassen sich mit den Vorbereitungen zu einem Roman, die Barthes zum Gegenstand seiner letzten akademischen Tätigkeiten gemacht hat. Dabei geht es nicht um ein zu erstellendes Werk. Vielmehr rücken die produktiven, ereignisorientierten Prozesse des Schreibens und Lesens in den Mittelpunkt. Die Betonung von Produktion und Rezeption führt wiederum auch zu einer Betonung von Subjektivität, die nicht die eines individuellen Selbst (ipse), sondern jene einer Selbigkeit (idem) ist.

Literatur

Barthes, R. (1963): »Die strukturalistische Tätigkeit«, in: Kursbuch (5/1966).

   -: (1964): Essais critiques, Paris, Éditions du Seuil.

   -: (1967): Kritik und Wahrheit, Frankfurt/M., Suhrkamp.

   -: (1968): »Der Tod des Autors«, in: Jannidis, F. u.a. (Hg.) (2000): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart, Reclam.

   -: (2016a): Variations sur l’écriture/Variationen über die Schrift, Mainz, Dietrich‘sche Verlagsbuchhandlung.

{}-: (2016b): Incidents/Begebenheiten, Mainz, Dietrich’sche Verlagsbuchhandlung.

Ette, Ottmar (2011), Roland Barthes zur Einführung, Hamburg, Junius.

Ferry, L./Renaut, A. (1985): Antihumanistisches Denken. Gegen die französischen Meisterphilosophen, München/Wien, Hanser.

Habermas, J. (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M., Suhrkamp

Ortheil, Hanns-Josef (2015), Die Pariser Abende des Roland Barthes, Mainz, Dietrich’sche Verlagsbuchhandlung.

Samoyault, T. (2015): Roland Barthes (aus dem Franz. von Maria Hoffmann-Darteville und Lis Künzli), Frankfurt/M., Suhrkamp.

Schiwy, G. (1984): Der französische Strukturalismus, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt.