Einleitung

Elisabeth Schäfer und Silvia Stoller (Wien)

Nichts hat das gesellschaftliche und politische Leben in Europa in den letzten zwei Jahren so sehr geprägt wie die Flüchtlingsthematik – und es wird auch keine Zukunft Europas ohne sie geben. Flüchtlinge, Flucht … Welchen Beitrag leistete die Philosophie zu dieser Fragestellung? Eine erste Recherche ergibt, dass sie sich – im Vergleich zu anderen großen Themen – nicht sonderlich intensiv mit dem Thema Flucht beschäftigt hat. Man wird beispielsweise nur schwer ein Philosophielexikon mit dem Eintrag »Flucht« finden können.[1] Ausnahmen bestätigen eher die Regel. Der im Jänner dieses Jahres verstorbene bekannte Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman hat in seinem 2016 erschienenen Essay Die Angst vor den anderen die emotionale Reaktion auf die Flüchtlingskrise untersucht und dabei die These aufgestellt, dass die moralische Panik letztlich dem Populismus zuspiele.[2] Schon wesentlich früher hat sich der Denker der Moderne mit der Flüchtlingsthematik auseinandergesetzt und dabei zu bedenken gegeben, dass die Moderne keine Zeit der Integration, sondern vielmehr der Exklusion bestimmter Menschen wie etwa MigrantInnen und Flüchtlinge ist, so in seinem Buch Verworfenes Leben.[3]

Ähnlich zurückhaltend ist eigentlich auch die Phänomenologie. Zumindest in der Vergangenheit. Einige Klassiker können jedoch genannt werden. An prominenter Stelle ist auf Hannah Arendt aufmerksam zu machen. Von ihr erschien 1943 in der jüdischen Intellektuellenzeitschrift Menorah Journal der Artikel »We Refugees«.[4] Arendt, bekanntlich selbst aus Nazideutschland geflohen, problematisiert darin die kollektive Identität der jüdischen Flüchtlinge, wobei ein deutlicher Akzent auf die Selbst- und Fremdbezeichnungen gelegt wird. Die darin aufgeworfene Frage nach der Assimilation, heute ist allerorts von »Integration« die Rede, ist von bleibender Aktualität. Zweitens wäre der französische Phänomenologe Paul Ricœur zu nennen. Obwohl der Titel seines Textes »Die Stellung des Fremden« auf den ersten Blick nicht auf die Flüchtlingsthematik schließen lässt, geht es genau darum: Vor dem Hintergrund einer Philosophie der Gastfreundschaft spricht er von einem Typus von Fremden, nämlich vom »Fremden als Flüchtling«.[5] Der Text erschien ursprünglich 1996 auf Französisch, und zwar im Zuge der Bewegung Sans papiers und anlässlich der Besetzung der Pariser Kirche Saint Ambroise durch 300 ImmigrantInnen, die auf ihre Situation aufmerksam machen wollten.[6] Nicht unerwähnt sollte Emmanuel Levinas bleiben. Eine frühe Arbeit aus den 30er-Jahren trägt den Titel L’évasion, also Flucht oder Entkommen. Sie ist auch in Phänomenologiekreisen nicht besonders bekannt und leider auch noch nicht ins Deutsche übersetzt. Levinas stellt dort die These auf, dass die Flucht ein charakteristisches Kennzeichen des menschlichen Daseins sei, die Flucht vor sich selbst nämlich.[7]

Der französische Philosoph Jacques Derrida, wesentlich beeinflusst durch die Phänomenologie und unter anderem aufgrund seiner Konzeption der absoluten Gastfreundschaft[8] für die vorliegende Thematik interessant, sprach im März 1995 auf der ersten Tagung des Internationalen Autoren-Parlaments im Straßburger Europarat über den ungesicherten Status von Flüchtlingen und umriss dabei auch einige konkrete Ziele des Autoren-Parlaments. In seinem Vortrag »Weltbürger aller Länder, noch eine Anstrengung!«[9] rief er zu einem »neuen Kosmopolitismus« auf. Dabei geht es ihm weniger um die Politik eines Staatenbundes (wie beispielsweise jenem der Europäischen Union), sondern um einen solidarischen Verbund von »Zufluchtsstädten«. Indem er die Geschichte der freien Städte hervorhebt, zeigt er, dass deren Geschichte wesentlich älter ist als die der Nationalstaaten, und setzt sich vor diesem Hintergrund für die Gründung eines Netzwerkes von »villes-refuges« (»Zufluchtsstädten«) ein. Wie weit ist unsere politische Gegenwart von »Zufluchtsstädten« entfernt? Wie stark hat sie sich stattdessen an eine Politik der »Lager« angenähert?

Dieser Frage stellte sich bereits der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der eine in der gegenwärtigen philosophischen Debatte um Flucht und Flüchtlinge viel diskutierte Figur gefunden hat, die die Doppelung von Ein- und Ausschluss in das und aus dem Recht verkörpert: den Homo sacer der Antike[10], der straflos getötet, aber nicht geopfert werden darf. An ihm beschreibt er jene »Zone der Indifferenz«, die, so Agamben, im Herzen des liberalen Rechtsstaats liegt und diesen sogar erst begründet. Agamben beschreibt den rechtlosen Flüchtling, dem nichts als das nackte Leben bleibt, als Grundfigur der heutigen globalen Machtkonstellation, die darüber hinaus zur Grenzfigur der Demokratie wird.[11]

Die hier ausgewählten und in aller Kürze vorgestellten philosophischen Auseinandersetzungen mit der Flüchtlingsthematik sind bereits im 20. Jahrhundert entstanden. Umso mehr freuen wir uns, dass wir in dieser Ausgabe des Journal Phänomenologie einige neuere philosophische Auseinandersetzungen mit der Flüchtlingsthematik vorstellen dürfen. Dabei sind ganz bewusst neben zwei theoretischen Texten auch zwei Erfahrungstexte platziert. Die Ausgabe wird von einem Jubiläumsbericht abgerundet.

Der erste Beitrag ist von der amerikanischen Philosophin Kelly Oliver von der Vanderbilt University in Tennessee. Ungeschönt beschreibt sie die Flüchtlingspolitik als das, was sie im Grunde geworden ist: eine Politik der Internierung und der Gefangennahme – und damit die Absurdität, mit der die vor Krieg und Verfolgung flüchtenden Menschen in aller Härte heute in Europa konfrontiert sind. Dies geschieht paradoxerweise nicht selten unter humanitären Vorzeichen, sodass Oliver in ihrem Artikel von einem Gefängnishumanitarismus (»carceral humanitarianism«) spricht.[12] Wir halten die Thematisierung dieser Lager- bzw. Gefängnispolitik für besonders wichtig, da man davon ausgehen kann, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger der europäischen Länder keine Ahnung und keine wirkliche Vorstellung von dieser Flüchtlingsexistenz haben. Die Lager wurden abseits, etwa auf Inseln wie in Griechenland errichtet; längst schon wird nur mehr noch, wenn überhaupt in Ausnahmefällen berichtet – und auch dann geht es zumeist nicht darum, die Lebenswirklichkeiten all dieser Menschen mitten in Europa detail- und erfahrungsgetreu wiederzugeben. Die Tatsache, dass der auf der Flucht befindliche Mensch heute tragischerweise mit dem Stigma des Terroristen, des Wirtschaftsflüchtlings und des sogenannten Gefährders behaftet ist, erleichtert die Sache nicht.

Der zweite Text wurde uns vom deutschen Philosophen Burkhard Liebsch zur Verfügung gestellt. Er ist einer derjenigen Phänomenologen, die öffentlich in den Medien zur Flüchtlingsthematik Stellung genommen haben. In einem Essay in der Wochenzeitung Die Zeit im September 2015 greift er die deutsche Willkommenskultur auf und sieht nicht zuletzt anlässlich der beachtlichen Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft eine grundsätzliche Chance einer Ethik der Gastfreundschaft, von der letztlich auch Deutschland und Europa insgesamt profitieren könnten.[13] Gastlichkeit und Gastfreundschaft sind auch das Thema in diesem Schwerpunkttext. Liebsch fragt, was es heißt und wie es ist, die Flucht zu ergreifen, und was es dann bedeute, in einem Gastland anzukommen, Zuflucht zu finden, die – wenn sie wirkliche Zuflucht ist – auch Bleibe sein kann. Er spricht von einer »primären Gastlichkeit«, die nicht im Vorhinein schon den »Gast« (Flüchtling) nach bestimmten Kriterien beurteilt, sondern ihn gewissermaßen bedingungslos begrüßt. Gegenüber nationalistischen und populistischen Kräften innerhalb Europas scheint Liebsch an ein Europa oder, wie er sagt, an eine »gelebte Europäität« zu denken, die noch an diese grundlegende menschliche Ethik der Gastfreundschaft anknüpfen kann und an die man vielleicht Hoffnungen knüpfen sollte, betont Liebsch doch, dass ohne diese grundlegende Gastfreundschaft »alles nichts ist«. Demgegenüber diagnostiziert Liebsch einem Europa, das sich nationalistisch verschließt, dass es »vor seiner eigenen Geschichte« die Flucht ergreife. Liebsch jedoch denkt ein Europa, das qua seiner Geschichte zur Bewältigung der Aufnahme von Flüchtlingen geradezu berufen wäre und ist, wenn es sich nicht selbst verwerfen will.

Kommt bereits Liebsch’ Text der Erfahrung der Flüchtenden und dem Ankommen der Menschen in den Gastländern sehr nahe, steht die Erfahrung in den folgenden beiden Texten im Zentrum: in diesem Fall die Erfahrung von Helfenden im Umgang mit den geflohenen und flüchtenden Menschen. Das praktische Engagement von Philosophinnen und Philosophen erschöpft sich nämlich nicht nur im Schreiben und Sprechen über etwas. Auch PhilosophInnen sind Menschen und nicht nur theoretisch Denkende, und als solche haben sie zu jenen akuten Zeiten auch unmittelbare, persönliche Hilfsdienste geleistet. Sie haben also nicht nur etwa Vortragsreihen und Tagungen an Universitäten organisiert[14], sie sind auch spontan zu den jeweiligen Grenzen gefahren, um ankommende Flüchtlinge erstzubetreuen und Hilfsorganisationen zu unterstützen – oder sie haben an Sammelpunkten wie Bahnhöfen Nahrungsmittel, Kleidung oder beispielsweise Medikamente gespendet. Reinhold Esterbauer und Elisabeth Schäfer sind beide PhilosophInnen. Ihre genauen sinnlichen Beobachtungen bieten tiefe Einsichten in konkrete Erfahrungen an Orten des Geschehens, wie man sie leider viel zu selten zu lesen bekommt.

Reinhold Esterbauer nimmt in seinem Text Erfahrungen an »Flucht-Orten« in den Blick. Wenn Erfahrung Grundlage phänomenologischen Denkens ist, weil sie den Zugang zur Wirklichkeit wesentlich mitbestimmt, so Esterbauer eingangs, wird auch die Frage, was es heißt, auf der Flucht zu sein, virulent. In seinen »Bruchstücken verdichteter Erfahrung« berichtet Reinhold Esterbauer von seiner Erfahrung, einige Zeit in einem Lager mitgeholfen zu haben, in dem Menschen untergebracht waren, die über die Balkanroute nach Österreich gekommen waren. Es geht um Grenzen, Verletzlichkeiten, Atmosphären und Gerüche an Flucht-Orten. Es wird deutlich, dass die Erfahrung der Grenze Flüchtlinge nicht loslässt. Und dass man, so Esterbauer, »[…] im Lager die Angst und die Unsicherheit zu riechen bekam, gerade im Hinblick auf das, was auf der Flucht noch kommen würde«.

Elisabeth Schäfer berichtet ebenfalls aus einer lagerähnlichen Situation, aus einer Erstbetreuungshalle für Flüchtlinge an der österreichisch-ungarischen Grenze. Ihre ersten Erfahrungen im September 2015 dort nimmt sie in »Acht Grenz-Erfahrungen« zum Anlass, »aus einer radikal involviert-wahrnehmenden Perspektive heraus zu berichten«. Sie geht dabei unter anderem Fragen wie diesen nach: Welche Körper bringt die Flucht hervor? Welche Chancen, welche Gefahren drohen allen am Fluchtgeschehen konkret Beteiligten?

Den Abschluss bildet ein Bericht über den deutschen Lehrer und Pfarrer Ludwig Friedrich Weidig (1791–1837). Als Vorkämpfer des Vormärz war er selbst Verfolgter und Vertriebener. Allerdings kehrte er auf der Flucht in die Schweiz freiwillig zurück in seine Heimatstadt, wo er kurz darauf verhaftet wurde. Ludger Fittkau und Petra Gehring aus Darmstadt erinnern damit nicht nur an ein individuelles Revolutionärsschicksal, sie machen auch darauf aufmerksam, dass es die Flucht aus politischen Gründen immer schon gegeben hat – und sie bekräftigen mit dieser Erinnerung die Tatsache, dass die Flucht stets mit der Möglichkeit eines Anderswo verknüpft ist.[15]

Anmerkungen

[1] In dem wohl wichtigsten deutschsprachigen Philosophielexikon, dem Historischen Wörterbuch für Philosophie, fehlt beispielsweise ein Eintrag »Flucht«.

[2] Zygmunt Bauman, Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache, Berlin: Suhrkamp 2016.

[3] Zygmunt Bauman, Flüchtiges Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg: Hamburger Edition 2005 (2. Aufl.). Siehe auch Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit. Aus dem Englischen von Richard Barth, Hamburg: Hamburger Edition 2008.

[4] Hannah Arendt, »Wir Flüchtlinge«, in dies., Zur Zeit. Politische Essays, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1989, S. 7–21.

[5] Paul Ricœur, »Die Stellung des Fremden«, in: Transit. Europäische Revue 48 (Winter 2015 / Frühling 2016), S. 156–171.

[6] Paul Ricœur, »Ouverture. La condition d’étranger«, in: Etranger, Etrangers, supplément au bulletin Information – Evangélisation, Eglise en débat, Nr. 2 (Mai 1996), S. 1–14. Die französische Originalpublikation enthält Kürzungen.

[7] Vgl.: »Thus, escape is the need to get out of oneself« (Paul Ricœur, On Escape. De l’évasion, übers. von Bettina Bergo, Stanford: Stanford University Press 2003, S. 53).

[8] Siehe z. B. Jacques Derrida, Von der Gastfreundschaft, Wien: Passagen 2007.

[9] Jacques Derrida, Weltbürger aller Länder, noch eine Anstrengung!, Berlin: Brinkmann \& Bose 2003.

[10] Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002.

[11] Deutsche Medien haben diese Gedanken aus aktuellem Anlass aufgenommen. Siehe beispielsweise Nils Markwardt, »Philosophie der Flucht«, in: derFreitag 35 (2015), online erschienen am 7.~10.~2015. Online: https://www.freitag.de/autoren/nils-markwardt/philosophie-der-flucht (abgerufen: 17. 11. 2015).

[12] Der hier ins Deutsche übersetzte Text von Kelly Oliver steht im Zusammenhang mit einer soeben erschienenen Buchpublikation zu diesem Thema. Siehe Kelly Oliver, Carceral Humanitarianism. Logics of Refugee Detention, Minneapolis: University of Minnesota Press 2017.

[13] Burkhard Liebsch, »Unser Land überrascht sich selbst«, in: Die Zeit online, 18. September 2015, http://www.zeit.de/kultur/2015-09/fluechtlinge-gastlichkeit-deutschland-essay (abgerufen 10. 2. 2017).

[14] Siehe beispielsweise die Tagung »Flucht und Asyl. Sozialphilosophische Perspektiven« am Institut für Philosophie der Universität Wien (https://kalender.univie.ac.at/einzelansicht/?tx\_univieevents\_pi1\%5Bid\%5D=14167, abgerufen: 10. 2. 2017) oder die Ringvorlesung 2016 an der FernUniversität Hagen, die vom Phänomenologen Thomas Bedorf zur Frage der Gastfreundschaft eröffnet wurde. Man kann sich den Vortrag im Internet anhören (siehe: https://www.fernuni-hagen.de/universitaet/aktuelles/2016/05/nb-start-ringvorlesung.shtml, abgerufen: 10. 2. 2017).

[15] Ursprünglich war in diesem Heft auch ein Beitrag von Heidrun Friese, Professorin für Interkulturelle Kommunikation an der TU Chemnitz, vorgesehen gewesen. Leider hat es nicht geklappt. Wir möchten aber an dieser Stelle unbedingt auf ihre einschlägigen Arbeiten aufmerksam machen: Heidrun Friese, Grenzen der Gastfreundschaft. Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage, Bielefeld: transcript 2014; dies., Flüchtlinge. Opfer – Bedrohung – Helden. Zur politischen Imagination des Fremden, Bielefeld: transcript 2017 (im Erscheinen).