Schwerpunkt: Biopolitik - Giorgio Agambens lange, dunkle Linien

Einleitung

Petra Gehring (Darmstadt), Ulrike Kadi (Wien)

Es ist kein Wunder, dass kaum eine philosophische Neuerscheinung im vergangenen Jahr so viel Aufmerksamkeit und auch bewundernde Zustimmung gefunden hat, wie Homo sacer - der endlich ins Deutsche übersetzte Theorie-Bestseller von Giorgio Agamben. Denn Agamben wagt etwas, und sein Buch hat die ganze Wucht eines gelungenen Anachronismus: Es ist unzeitgemäß und hochaktuell zugleich. Viel zu grundsätzlich, zu politisch, zu pathetisch wirkt es auf der einen Seite. Auf der anderen Seite scheint es jedoch genau diejenigen Fragen ‚endlich' wirklich zu behandeln, an deren quälender Offenheit man zumindest auf der historisch-politisch abgewandten, der nicht staatstragenden Seite des Mondes leidet. Foucault, Adorno, Arendt und Levinas gut gelesen im Handgepäck steht man doch stumm da - angesichts eines biopolitischen Umbaus der Gesellschaften, angesichts ethisch flankierter Bio-Industrialisierung, angesichts neuer Kriege, neuer, religiös codierter Rassismen und neuer Bevölkerungspolitiken weltweit. Das Jahrtausend hat angefangen, es steht unter keinem guten Stern, theoretische Leuchtfeuer fehlen, man ersehnt den großen Wurf.

Und ... ob er es ist? Jedenfalls bietet Homo sacer der Artikulation des Unbehagens an der Gegenwart in einer nie zuvor dagewesenen Weise lange Linien an. Agamben schreibt - "in der Dringlichkeit der Katastrophe" (HS, S. 22 [1]) - eine Art Geschichte der Biopolitik - nicht des Begriffes, sondern der "Sache". Und diese von Agamben in den Blick genommene Biopolitik ist so alt wie die Welt: Sie beginnt mit der griechischen Terminologie in Sachen Leben und mit den archaischen Kategorien der strafrechtlichen "Hereinnahme" des Lebens in das Recht, der seit jener Zeiten als Strafrecht und Religion noch nicht geschieden waren der "homo sacer" entspricht: Die vermeintlich widersprüchliche Option, das Individuum im Ausnahmefall zu einem dinglichen Nichts, einem Un-Etwas zu verwerfen. Womit es dann doch nur auf Widerruf ein "Mensch" war im juridisch zivilisierten Sinne. Der homo sacer als "nacktes oder heiliges Leben" verkörpert die ursprünglichste Dimension des Politischen im Recht - desjenigen, auf dem das Recht beruht und weswegen jedes Recht widerruflich bleibt.

Bilden die Antike und das Kirchenrecht den Horizont einer nahezu zeitlosen biopolitischen Verdunklung Europas, so ist deren bedrängendster Pol gegenwartsbeherrschend: das "Lager" als "biopolitisches Paradigma der Moderne". Agambens These ist schwer erträglich: Die Souveränität des (nackten) Lebens über sich selbst - zwar auch das ursprüngliche Pathos der Menschenrechtserklärung - trägt doch in neuer Doppeldeutigkeit den Gedanken des "Lebensunwerten" wie eine Kehrfigur in sich: "Es ist gleichsam, wie wenn von einem bestimmten Zeitpunkt an jedes entscheidende politische Ereignis ein doppeltes Gesicht angenommen hätte: Die Räume, die Freiheiten, die Rechte, welche die Individuen in ihren Konflikten mit den zentralen Mächten erlangen, bahnen jedesmal zugleich eine stille, aber wachsende Einschreibung ihres Lebens in die staatliche Ordnung an und liefern so der souveränen Macht, von der sie sich eigentlich freizumachen gedachten, ein neues und noch furchterregenderes Fundament." (HS, S. 129) "Humanitäre" Erwägungen, wie sie die Euthanasie-Propagandisten - Agamben nennt Binding und Hoche [2] - ins Werk setzen und dann in Hitlers Massenvernichtungs-Programmen vollstreckt sind, verlängern die langen, dunklen Linien und lassen das historisch-politische Schicksal Europas im Entsetzen enden. "Das Lager und nicht der Staat ist das biopolitische Paradigma des Abendlandes" (HS, S. 190), lautet der bittere Schluss. Leibhaftig Untote - der von Primo Levi beschriebene sogenannte Muselmann im Vernichtungslager, der Körper der Karen Ann Quinlan im anhaltenden Koma: Tragödie der puren "Lebensform" (forma-di-vita: HS, S. 198) als einer Form, in der die Lebensfrage unentscheidbar wird und quasi erloschen ist. Das Leben, um das es hätte gehen können, ist ja dem Tod schon überantwortet, durch die Art und Weise, in der man hier die Frage nach der Entscheidung ‚für' oder ‚gegen' das Leben stellt.

Vier Beiträge haben wir hier versammelt. Ihre Gemeinsamkeit ist, dass sie auf Agambens Text reagieren - auf einen Text, auf den man nur schwer reagieren kann und auf verschiedenen Wegen. "Der homo sacer ist immer und überall ... Die Faszination des Begriffs mag daher rühren, dass jedermann das nackte Leben zu erblicken vermag, wo und wann er nur will", hat Niels Werber angemerkt und mit Recht darauf hingewiesen: "für die Kulturformate der Medien" hat Agamben allemal ein unwiderstehliches Theorieangebot gemacht. [3] Soll mehr dran sein, müßte man mehr daraus machen: So gründlich wie Martin G. Weiß zu Agambens neuem Buch über Mensch und Tier, so nachdenklich wie Andreas Großmann aus der politischen und Matthias Kettner aus der bioethischen Perspektive oder so zornig wie Thomas Ehlers über Agamben, Foucault, das Gefängnis und das Lager.

Die vier Autoren und die Redakteurinnen des Schwerpunkts - Ulrike Kadi und Petra Gehring - hoffen auf Resonanz.

 

Anmerkungen

[1] Folgende Werke von Giorgio Agamben werden in den nachfolgenden Beiträgen in abgekürzter Form nachgewiesen:
HS = Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (1995). Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt am Main 2002.
MZ = Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik (2001). Aus dem Italienischen von Sabine Schulz. Freiburg, Berlin 2001.
HK = Heimliche Komplizen. Über Sicherheit und Terror, in: FAZ vom 20.9.2001.
AP = L'Aperto. L'uomo e l'animale. Torino (Bollati Boringhieri) 2002.

[2] Mit der Markierung des biopolitischen Übergangs zu offener Euthanasie-Programmatik auf 1920 - das Erscheinungsjahr der Schrift über Die Vernichtung lebensunwerten Lebens von Binding und Hoche - bleibt Agamben vergleichsweise konventionell. Vgl. zu viel früheren Programmen - etwa in Haeckels Lebenswundern von 1904 - die Rezension des Buches von Sarasin von Ludger Fittkau in diesem Heft.
[3] Vgl. die kluge Besprechung von Niels Werber, die neben anderem die Spuren des politischen Dezisionismus Carl Schmitts verfolgt: Agamben sieht überall Konzentrationslager, in: Merkur 65 (2002), S. 618-622, hier S. 622.