Schwerpunkt: Hannah Arendt

Kein Zweifel: Wer zur Zeit einen Hannah Arendt-Schwerpunkt präsentiert, hat die Zeichen der Zeit erkannt. Sie stehen auf Hannah Arendt, wie an den nicht enden wollenden Publikationen zu ihrem Denken und auch Leben ablesbar ist. Nicht nur in akademischen Kontexten ist Arendt präsent. Wenn es um Grundsatzfragen politischer Erneuerung in der (seit dem vergangenen Herbst angeblich nicht mehr ganz so) politikverdrossenen Bundesrepublik Deutschland geht, kann man häufig ihren Namen lesen. Die großen Tages- und Wochenzeitungen leisten sich wiederholt Artikel zu Arendt. Vom Freitag erschien im Sommer vergangenen Jahres über Wochen kaum eine Ausgabe, in der sie nicht mindestens einmal erwähnt wurde. Die Deutsche Zeitschrift für Philosophie hat erst kürzlich wieder einen bisher nur englisch zugänglichen Text in einer Übersetzung veröffentlicht (Dt. Z. f. PH. 46 (1998) 6, S. 997-1009). Ein "Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V." (Bremen) ist schon vor einigen Jahren ins Leben gerufen worden, seit kurzem gibt es eine Stiftungsprofessur in Oldenburg, wo zudem ein Hannah Arendt-Archiv im Aufbau ist (vgl. Journal Phänomenologie Nr. 10, 1998, S. 39) und über eine kritische Ausgabe nachgedacht wird; und seit ganz kurzem gibt es einen Hannah Arendt-Newsletter, der über internationale Aktivitäten in Sachen Hannah Arendt informieren will (vgl. in diesem Heft S. 50). Auch des Tagens und Konferierens ist kein Ende (vgl. in diesem Heft S. 46-49). Hannah Arendt, die nie Schwierigkeiten mit "lechts und rinks kann man nicht velwechsern" hatte, weil dies für sie keine relevanten Kategorien waren, wurde – das ist schon gelegentlich bemerkt worden – genau zu dem Zeitpunkt in großem Maßstab entdeckt, als alte Gewißheiten solcher Art sich aufgelöst hatten. Nachdem nun das daran anschließende wilde Gebaren der Neoliberalisten geringfügig abgeflaut zu sein schien, aber auch die westeuropaweite sozialdemokratische Normalität ihre besondere Spezifik vermissen läßt, ist nach wie vor die Frage nach einem der Gegenwart angemessenen Denken des Politischen und nach einer angemessenen Politik keinesfalls durch das Ende der Geschichte gelöst, und es könnte sein, daß der Arendt-Boom noch ein wenig anhält – zumal auch schon der hundertste Geburtstag naht.

Wie dem auch sei... Mit den kurzen Beiträgen unseres Schwerpunktes schwimmen wir zwar im Strom dieses Booms, halten uns jedoch bescheiden etwas abseits der offensichtlich 'großen Fragen'. Die Beiträge von Christina Schües und Leif Pullich beschäftigen sich mit Themen, die eher zu den weniger beachteten der Arendt-Literatur gehören. Eine solche Aussage mag hinsichtlich des Begriffs der Natalität zunächst überraschen. Ein genauerer Blick in die Literatur zeigt jedoch schnell, wie verhältnismäßig wenig Erhellendes und Weiterführendes sich dazu findet, obwohl doch Arendt als diejenige gilt, die den Begriff überhaupt erst ernsthaft aufgebracht hat. Allerdings erscheint die unermüdliche Wiederholung des bekannten Augustinus-Zitats zuweilen als ihr ceterum censeo, das auch nicht eben zur Klärung beiträgt. Christina Schües geht in ihrem Beitrag jenem Zusammenhang von Natalität und Verantwortung nach, den Arendt in Vita Activa eröffnet mit dem Hinweis auf die "zweite Geburt", die der sprechende und handelnde Eintritt in die Welt darstellt, und macht fünf Dimensionen von Verantwortung aus, die wir in dieser "zweiten Geburt" auf uns nehmen.

Anders, aber doch auch ähnlich, liegt die Sache beim Verzeihen. Zwar geistert das Verzeihen schon etwas länger als die Natalität in den Texten der Zunft herum, aber so richtig zum Thema philosophischer Diskussion wurde es erst seit den sechziger Jahren (insbesondere im angelsächsischen Bereich). Jedoch hat weder diese Diskussion Kenntnis von Hannah Arendt genommen (mit Ausnahme der in Pullichs Beitrag in Anm. 9 genannten Arbeit von Kodalle), noch ist im Kontext der Arendt-Forschung das Verzeihen ernsthaft zum Untersuchungsgegenstand geworden. Hinzu kommt, daß Arendt selbst, anders als im Falle der Natalität, dem Thema in ihren Schriften nach Vita Activa keine bleibende Aufmerksamkeit gewidmet hat. Möglicherweise steht dies, so Leif Pullichs Vermutung, im Zusammenhang mit den anarchischen Momenten des Verzeihens. Pullich stellt zudem den in seinem Weltbezug spezifischen Charakter des Arendtschen Verzeihensbegriffs heraus.

Eher weltlos bleibt es dagegen in dem kürzlich erschienen Briefwechsel zwischen Heidegger und Arendt, dem Andreas Großmann eine kurze Reflexion widmet und der dem Geraune über beider Liebesaffäre nun, wie Großmann schreibt, "seine gleichsam offizielle Beurkundung" erteilt. Großmann stellt die Frage, warum Arendt in ihren Briefen so ausgesprochen verhalten bleibt gegenüber Heidegger, gerade auch hinsichtlich seines politischen Fehltritts, den sie doch andernorts scharfer (obgleich später wieder abgeschwächter) Kritik unterzogen hat.