"Ich schwimme lieber." Ein Gespräch mit Otto Pöggeler

Anläßlich des 70. Geburtstages von Otto Pöggeler im Dezember 1998 führten Andreas Großmann und Gerhard Unterthurner mit dem Emeritus der Ruhr-Universität Bochum und langjährigen Direktor ihres Hegel-Archivs ein Gespräch über Phänomenologie und Hermeneutik, Kunst und Politik – Themen, die das Denken Otto Pöggelers immer wieder und in verschiedenen Konstellationen beschäftigt haben. Für ihre Hilfe bei der Niederschrift sei Anja Exner sehr herzlich gedankt.

Journal Phänomenologie: Herr Pöggeler, in Ihrem autobiographischen Text "Eine ernste Sache" ist uns aufgefallen, daß Hegel und Heidegger eine bemerkenswert schwache Gewichtung erfahren. Gleichzeitig weisen Sie darauf hin, daß Levinas für Sie bereits nach Ihrem Buch Der Denkweg Martin Heideggers (1963) wichtig geworden sei. Nun wird Levinas in Ihren Büchern oft nur gestreift, Heidegger und Hegel aber sind zentrale Themen. Ihr Name ist vor allem mit letzteren verbunden. Welchen Stellenwert würden Sie Levinas für Ihr Denken beimessen?

Otto Pöggeler: Ich darf dazu sagen, daß ich nicht sofort von der phänomenologischen Philosophie ausgegangen bin, sondern vom deutschen Idealismus. Es ging in den 50er Jahren einfach um die Frage, wie man als Deutscher überhaupt wieder in der Geistesgeschichte und auch in der Philosophie international mitarbeiten könne, und da stand zuerst einmal die Goethezeit im Mittelpunkt. Da kamen weder Levinas noch Heidegger in irgendeinem Sinne vor. Dann aber bin ich durch Oskar Becker, der uns die Vorlesungen des frühen Heidegger mitgeteilt hat, auf Heidegger gestoßen, auch Husserl habe ich danach studiert. Als ich sodann 1957 für einige Monate in Paris war, war es ganz einfach so, daß man nicht mitreden konnte, wenn man nicht über Heidegger sprach. Derjenige, der in Paris jahrelang über Heidegger gelesen hat, war Jean Wahl, der Lehrer von Levinas. Jean Wahl war ein synkretistischer Philosoph, der den Hegel der "Phänomenologie", Kierkegaard usw. zusammenbrachte, auch Gedichte schrieb. Das konnte jedoch, wie ich sehen mußte, nicht mit dem, was etwa Heidegger selber machte, konkurrieren. Und ich glaubte im übrigen auch, daß Jean Wahl Heidegger nicht richtig verstanden hat, von da aus waren die Schienen aber zu Levinas gelegt. Ferner ist zu bedenken, was heute wohl nicht mehr nachzuvollziehen ist, daß in den 50er Jahren Martin Buber eigentlich wichtiger in der Diskussion war als Heidegger. Die Diskussion Heidegger–Buber war 1959/60 in aller Munde. Als Celan z. B. 1960 zu der schwer erkrankten Nelly Sachs kam, hat sie sofort angefangen mit dieser Diskussion. Jedenfalls ist es in der Tat so, daß mir 1963, als ich mein Buch über Heidegger schrieb, Levinas eigentlich unbekannt war. Daraufhin habe ich ihn mir aber sofort näher angesehen. Später habe ich mit Levinas zusammen zwei Kolloquien in Leuven veranstaltet, und wir haben seine Dinge diskutiert, immer aber im Hinblick auf das Übersetzungsproblem. Das Interessante für mich war vor allem dieses: Es war der späte Levinas, der sich nun dazu äußerte, wie man seine frühen Texte übersetzen sollte. Und ich muß eigentlich sagen: Alle seine Antworten hielt ich für falsch, weil er seine frühen Arbeiten einfach von den späten Arbeiten her auslegte, was nicht angemessen ist. Das tat Heidegger auch, und insofern habe ich die beiden, obwohl sie so verschieden sind, immer in einer Nähe gesehen. Und beide waren eben kleine, gedrungene Gestalten, die – würde ich sagen – in der Diskussion im kleinen Kreis überzeugender waren als in ihren Schriften.

JPh: In bezug auf Heidegger legen Ihre Beiträge in Neue Wege mit Heidegger nahe, daß es kein Mit-Heidegger-Denken gibt, das nicht ein Gegen-Heidegger-Denken miteinschließt. Wenn wir richtig sehen, haben Sie seit der ersten Auflage des Denkwegs das Heideggersche Denken zunehmend problematisiert, was sich in den späteren Nachworten zur zweiten und dritten Auflage, aber auch in anderen Schriften und insbesondere in Ihrem Buch Neue Wege mit Heidegger dokumentiert, vor allem was die Politik anbelangt. Dies ist ein Problemfeld, das ja nicht nur in bezug auf die Heidegger-Affäre von Belang, sondern elementarer Bestandteil einer hermeneutischen Philosophie ist, wie Sie sie gegen Heidegger, aber auch in Abgrenzung von Gadamer umrissen haben.

Sie haben Heidegger vorgeworfen, daß er das Politische von der Kunst bzw. einer bestimmten Kunst aus thematisiert, daß er ein frühromantisches Motiv weiterverfolgt, demgemäß die Kunst wieder eine neue Welt stiften soll. Dagegen setzen Sie auf gewisse Weise Hegels These vom Vergangenheitscharakter der Kunst, die Kunst nurmehr als eine partikulare Leistung, nicht mehr aber als umfassenden Horizont einer Epoche einstuft. Bei Heidegger dagegen bleibe die Differenz zwischen Kunst und Politik unklar, so daß er beiden Sphären nicht gerecht werde. Wie würden Sie die Differenz von Kunst und Politik bestimmen?

Pöggeler: Vielleicht darf ich zunächst auf den ersten Teil Ihrer Fragen antworten, nämlich daß ich Heidegger zunehmend problematisiert habe. Das kann man auch nur aus der damaligen Situation verstehen. Man sagt heute, in den 50er Jahren sei das Problem des Politischen kein Thema gewesen. Das ist jedoch völlig falsch. Man konnte damals einfach nicht philosophieren, wenn man nicht auch politische Motive hatte. Das wurde dann später nicht mehr anerkannt, weil die 68er sagten, das knüpfe an die Weimarer Zeit an. Das stimmt, aber ich fand diese Anknüpfung gar nicht so schlecht. Und dann kam bei mir noch hinzu: Was ich wirklich studiert hatte, war Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, was auf Max Weber hinauslief. Als ich das erste Mal zu Heidegger kam, habe ich ihm die politischen Fragen, die es gab, auch vorgelegt, und er hat auf diese Fragen nach meiner Auffassung sehr klar geantwortet. Er sagte nämlich, daß er 1933 völlig verblendet war. In Hitler hatte er ja einen "grünen" Politiker gesehen, würde man heute sagen. Er hatte damals noch eine Weinbauernpartei gewählt, also eine damalige "grüne" Partei, und dann sagte er: Jetzt kann das nur noch dieser Hitler wenden, diesen Amerikanismus und Bolschewismus in ihrem Zugriff auf Deutschland, die eben all das noch gebliebene Bäuerliche vernichten wollen. Das hat er mir damals so erklärt, und ich habe es ihm damals abgenommen. Später habe ich freilich zu meinem Erstaunen gesehen, daß er doch 1933, bis 1934, mit der Formulierung, die dann bekannt wurde, aber auch etwas ungerecht ist, "den Führer führen" wollte und also durchaus einen "Edel"-Nationalsozialismus im Sinn hatte. Diese konkreten Zusammenhänge habe ich erst später so gesehen, und deshalb bin ich in meinem Buch von 1963 davon ausgegangen, daß man über Politik von Heidegger nichts lernen kann und lieber etwa zu Max Weber gehen und von daher fragen sollte, wie man eine Philosophie der Politik entfalten könne. Es gab in Freiburg damals auch die Bergsträsser-Schule. Bergsträsser war ein Emigrant, und er war, als er nach Freiburg zurückkehrte und den Lehrstuhl für politische Philosophie oder Politikwissenschaft bekam, ein Heideggerianer. Doch sagte Bergsträsser, wenn man mit Heidegger gehe, dann müsse man dies auch gegen ihn tun. Und Heidegger selber sah das auch so. Deshalb habe ich es einfach für unsinnig gehalten, in meinem Buch von 1963 diese politischen Fragen zu artikulieren. Als dann aber das "Spiegel"-Interview von Heidegger zwar noch nicht erschienen, aber ruchbar wurde, habe ich mir gesagt: So geht das nicht, diese politischen Dinge müssen doch wirklich artikuliert werden. Das zweite Motiv war, daß ich der Auffassung war, und das auch heute noch bin, daß in der 68er-Bewegung diese falsche Politisiererei wieder zum Zuge kam. Anfang der 50er Jahre zeichneten sich die Dinge in Bonn erst ab. Es gab einen Politischen Club, in dem Professoren und ausgewählte Studenten mit Politikern diskutierten. Die Grundüberzeugung war, daß die Europäer, vor allem die Franzosen und Deutschen, gemeinsam einen neuen Weg finden müßten und würden. Heideggers "Kehre" war in den Seminaren, die ich mied, in aller Munde. Apel und Habermas waren damals in Bonn die Heideggerianer. Zu Recht suchte Habermas, einst HJ- Führer, eine ganz andere Position. Die schnell verwerfende Kritik schien sich aber durchzuhalten. Apel paßte sich 1969 in seinem Kieler Vortrag "Wissenschaft als Emanzipation" dem neuen Jargon an. Mit diesen Kurzschlüssen wollte ich nichts zu tun haben; doch hatte ich eingesehen, daß man Heideggers politischen Irrweg als Warnung vor neuen Irrwegen begreifen müsse. So habe ich, eine Heidelberger Vorlesung von 1967 nutzend, 1970 einen Vortrag über "Philosophie und Politik bei Heidegger" gehalten und herausgestellt, daß Heidegger keinen Begriff von Politik hatte, von konkreter Politik absolut nichts wußte und überhaupt nicht fähig war, sich z. B. in die Jurisprudenz hineinzufinden.

JPh: Sie erwähnen die Bergsträsser-Schule. Hat sich Heidegger zu diesen Bemühungen, etwa Alexander Schwans, oder auch zu den Arbeiten von Werner Maihofer jemals näher geäußert, der ja im Anschluß an Sein und Zeit eine politisch-rechtliche Ontologie zu entwerfen versucht hat?

Pöggeler: Ich glaube, zu Werner Maihofer gab es ein ganz und gar positives Verhältnis, wohl auch über den Verleger Klostermann. Das war aber natürlich nicht die Bergsträsser-Schule. Alexander Schwan kam aus der Bergsträsser-Schule, er hat m. E. aber die Kritik überzogen und zeigte außerdem eine Traditionsverhaftetheit, die ich so nicht akzeptieren kann. Heidegger muß ich hierin recht geben, daß uns das Problem der Technik von der alteuropäischen Zeit abgetrennt hat. Und deshalb kann es hier kein einfaches Zurück zu einer Art Wiederherstellung der alten praktischen Philosophie geben. Maihofer denkt demgegenüber genuin phänomenologisch. Aber Maihofer war ja auch ein wirklich aktiver Politiker. Es ist sicherlich für die Phänomenologie ein Verlust, daß man ihn heute zu sehr aus dem Blickfeld verloren hat.

Doch fragten Sie auch nach dem Politischen und der Kunst. Dazu ist natürlich noch etwas zu sagen. Es gibt in meinen Augen kaum eine Kunst, die wirklich sehr starken Öffentlichkeitscharakter hat. Unter Joseph II. etwa war das natürlich noch anders. Wenn er Mozart heranzog, sollte das – selbst der "Don Giovanni" – ein Lehrstück sein für den Adel. Diese Dinge sind heute vorbei. Daß man heute sagen könnte, die Kunst habe in dieser Weise Öffentlichkeitsbezug wie früher, das würde ich nicht zugeben. Ich habe das herauszustellen versucht in bezug auf etwas sehr Subtiles, nämlich die Lyrik von Celan. Ich habe immer gemeint, daß hier in deutscher Sprache da ist, worum man gegenwärtig in der Öffentlichkeit ringt: ein Holocaust-Mahnmal, aber eines, mit dem sich jeder einzelne und in Stille für sich auseinandersetzen kann. Ob man aber einen monumentalen Gedenkort mit Hilfe von Hollywood und Spielberg inszenieren kann, das bleibt m. E. problematisch. Und das ist ja auch in Yad Vashem beispielsweise anders: Das ist ein Gedenkort, natürlich nicht an die eigenen Untaten, von vollkommener Stille, bestimmt nur von einer Flamme des Gedenkens. So etwas kann man machen, aber doch nicht so ein großes Spektakel, wie das in Berlin geplant ist. Ich frage mich eigentlich erschreckt: Warum erinnert man sich nicht an das, was früher dazu von Levinas z. B. (das zweite Hauptwerk ist ja den im Holocaust Ermordeten gewidmet) oder Celan und vielen anderen aus der Erfahrung heraus gesagt wurde? Eine Besinnung darauf fehlt, und sie kann man auch nicht durch Tausende von Biographien usw. ersetzen. Solche Untersuchungen bleiben nach meiner Auffassung äußerlich. Doch würde ich schon sagen: Eine Kunst, die überhaupt keinen politischen Bezug hat und zum mindesten Politik nicht herauszufordern vermag, ist für mich nicht interessant. Und deshalb habe ich mich mit Celan z. B. beschäftigt oder in der Malerei mit Klee.

JPh: Wir möchten das Problem gerne noch etwas von der Politik her zuspitzen: Einer Ihrer zentralen Kritikpunkte schon an Sein und Zeit betrifft Heideggers Deutung der Praxis, d. h. der Bestimmung der Praxis von der Poiesis her. So haben Sie auch gesagt, Heidegger hätte zumindest von Hannah Arendts Unterscheidung des Handelns vom Herstellen lernen können, um dem Politischen eine Eigenständigkeit zuzuerkennen und es nicht im Zeichen der Poiesis zu denken. Heißt das, daß das Poietische und Praktische für Sie getrennte Bereiche oder Ordnungen mit je eigener Logik sind? Oder würden Sie auch eine Verschränkung der Ordnungen, d. h. beispielsweise poietische Momente im Praktischen, anerkennen? Phänomenologische Konzeptionen des Politischen wie etwa diejenige von Castoriadis machen ja gerade diese Perspektive stark.

Pöggeler: Bei Heidegger ist das sehr merkwürdig: Er hat ja Anfang der 20er Jahre über Aristoteles gearbeitet und dann noch einmal im Rückblick darauf im Sommer 1924 über Aristoteles gelesen. In dieser Vorlesung geht er davon aus, daß Aristoteles der Verfasser einer politischen Philosophie ist, die zur praktischen Philosophie gehört. Das scheint er dann aber völlig vergessen zu haben. Und was er vor allen Dingen vergessen hat, ist der aristotelische Begriff der Praxis, den Heidegger mit Poiesis gleichsetzt. Poiesis heißt, daß wir etwas herstellen. Ob die Kunst im Griechischen auch schon Poiesis oder nur Handwerk ist, ist noch ein Problem (nach Max Müller z. B. gibt es eine Poiesis höherer Ordnung, und das ist dann die Kunst). In jedem Falle bedeutet Handeln nach Aristoteles etwas anderes, nämlich daß der eine sich mit dem anderen auf Regeln des Zusammenlebens einigt. Und das hat nichts mit Poiesis zu tun. Was dann Hegel eingebracht hat, ist, daß z. B. durch die Sphäre der Wirtschaft der Politik bestimmte Vorgaben gemacht werden, die sie erfüllen muß – auch durch die Technik, was ja Hannah Arendt zu Unrecht beiseite schieben will. Und insofern ist natürlich die Praxis mit der Poiesis verbunden, weil die Poiesis den Raum der Praxis schon vorher strukturiert. Wir können heute nicht ohne die Technik leben. Es müßten Milliarden von Menschen verhungern, wenn man die Technik plötzlich abschaffen wollte.

JPh: Das heißt, Sie meinen ähnlich wie Hannah Arendt, daß Homo faber dem Politischen den Raum bereitet, das Politische selbst aber von poietischen Elementen gelöst ist?

Pöggeler: Bei Hannah Arendt bekommt der Homo faber natürlich immer eine negative Wertung. Das ist m. E. ungerecht.

JPh: Der Homo faber kommt bei ihr ja aber auch in dem Sinne vor, daß der Gesetzgeber gleich einem Architekten den Raum schafft für das öffentliche Leben.

Pöggeler: In diesem Sinne würde ich Hannah Arendt folgen. Aber es muß natürlich die Politik die Entscheidung fällen dürfen, heute z. B. auch in der Entwicklung von Techniken. Welche Techniken wollen wir zulassen und welche nicht? Was aber Schwierigkeiten hat, wie etwa die Atomtechnik zeigt. Doch liegen die größeren Probleme heute eher in der sogenannten Biotechnik. Das ist ein Thema, das Heidegger in seiner künftigen Bedeutung gelegentlich anspricht. Früher war das aber kein Diskussionsgegenstand. All die Diskussionen, die geführt worden sind, z. B. über die Frage nach der Technik von Heisenberg und anderen in München 1953, gingen ja nicht von der Biologie aus; bei den Neukantianern und Phänomenologen wie Husserl und Heidegger war die maßgebliche Naturwissenschaft die mathematische Physik. Die Biologie ist etwa von Scheler am Rande berücksichtigt worden, auch von Bergson. Aber Scheler kannte natürlich nichts von unserer heutigen Biologie, die eine ganz andere ist.

JPh: Sie plädieren für eine Differenz von Kunst und Politik. In Ihrer eingangs schon erwähnten autobiographischen Skizze sagen Sie nun, "das allzu oft Ortlose", Utopische, könne und müsse Maß unseres Tuns sein. Verstehen wir Sie richtig, daß Sie von daher auch der Kunst ein kritisch-politisches Potential zugestehen würden? Und wenn dies so wäre – was ist der Grund, warum Sie nie ausführlicher auf einen Theoretiker wie Adorno eingegangen sind, der ja die Kunst explizit als Utopie und Epiphanie des Rettenden herausgestellt hat?

Pöggeler: In meinem Verhältnis zu Adorno gilt, daß man nicht über alles arbeiten und publizieren kann. Ich habe immerhin Seminare veranstaltet über seine Ästhetische Theorie wie auch über die Negative Dialektik. Ich habe auch einmal sehr einverständig mit ihm diskutiert. Wir verstanden uns eigentlich ganz gut. Wir haben zum Schluß auch über Heidegger gesprochen, und da habe ich ihm gesagt: Was Sie sagen, das steht doch auch bei Heidegger, nur mit anderen Worten. Darauf hat er gesagt: Ja, das muß ich mir mal überlegen. Zwei Jahre später kam dann das, was er über Heidegger geschrieben hat, was einfach Mumpitz war. Das waren dann nur noch reine Machtkämpfe. Heute aber bedaure ich eigentlich, daß ich nichts – was ich vorhatte – z. B. über die Ästhetische Theorie geschrieben habe. Wobei ich Adorno an vielen Punkten auch kritisieren würde. Was er beispielsweise über Celan sagt, das ist einfach im schlichtesten Sinne falsch, und da ist m. E. überhaupt keine sinnvolle Diskussion möglich. Aber daß man der Kunst doch ein kritisches Potential zugestehen muß, das habe ich immer unterschrieben. Denken Sie daran, daß, als die Todesfuge von Celan im Deutschen Bundestag von Ida Ehre vorgetragen wurde, ein solches Sensibilisierungsvermögen wachgerufen worden war, daß ein sehr tüchtiger und bedeutender Bundestagspräsident, der einfach sein Manuskript vorlesen wollte, darüber gestürzt ist – während man heute sagt, daß das, was er sagen wollte, der Sache nach durchaus gut war. Aber es kommt natürlich nicht nur darauf an, daß es der Sache nach gut ist, sondern daß man es auch situationsgerecht und sensibilisiert vorbringt. Und dafür bietet sich immer noch die Kunst an – die Dichtung, aber auch immer wieder die Malerei. Es werden ja gerade anhand der Malerei immer wieder sehr große Schlachten geschlagen: Kann man z. B. DDR-Maler wie Heisig in unseren Kosmos von Malerei einbeziehen oder nicht?

JPh: Sie erwähnen hin und wieder auch die Bedeutung der Musik für Sie persönlich, haben aber in Ihren philosophischen Arbeiten außer zur Dichtung, vor allem Celans, hauptsächlich zur Architektur und Malerei gehandelt. Warum die Enthaltsamkeit in Sachen Musikphilosophie? Oder würden Sie hier auch sagen, daß man eben nicht über alles schreiben kann?

Pöggeler: Also ich selber habe ja einmal Musiker werden wollen, habe auch noch bei Hermann Schröder aus Köln Komposition studiert, habe vor allen Dingen auch Orgel gespielt. Als ich 14 Jahre alt war, hatte ich drei Orgeln mit verschiedenen Transpositionen: mechanisch, pneumatisch und elektrisch. Aber nach 1945 waren alle drei Instrumente zerstört. Die Situation nach dem Krieg war sehr schwierig, und als Student konnte man weder Klavier noch Orgel spielen. Man durfte damals nicht einmal Geige spielen. Man hatte nur ein einfaches kleines Zimmer. In unserer Studentenzeit, etwa Anfang der 50er Jahre, hat Stockhausen auf dem Dachboden der Bonner Universität – der wurde ihm überlassen – seine Kompositionen aufgeführt. Das war damals völlig neu. Seit dieser Zeit war endgültig klar, daß die Musik Abschied genommen hatte von dem, was mir selber vertraut war, das heißt von der pythagoreischen Bestimmung der musikalisch verwertbaren Töne, den Kirchentonarten und vor allem Dur und Moll. Dann fing man an, mit Geräuschen Musik zu machen, und das hat sich sehr bald durchgesetzt. Das ist alles ein so schwieriges Problem, daß man so einfach nicht darüber schreiben und sprechen kann. Aber vielleicht komme ich einmal dazu, daß ich wenigstens in einem Aufsatz etwas dazu sagen kann.

JPh: Wir würden jetzt gerne die Brücke zur Hermeneutik schlagen und auf ein Thema eingehen, auf das Sie immer wieder hinweisen. Sie sprechen davon, daß die hermeneutische Philosophie nicht nur Bezüge zum Ethisch-Politischen herstellt, sondern gewissermaßen selber ethisch-politisch ist, und zwar wesentlich in dem Sinne, daß sie gewisse ethisch-politische "Vorurteile" mitbringt, d. h. vom Ethisch-Politischen bestimmt ist, und diese Prägung zu reflektieren hat. Worin würden Sie genauer die "Vorurteile" Ihres eigenen hermeneutischen Philosophierens sehen?

Pöggeler: Ja, ich würde sagen: "continental", wie die Amerikaner das nennen. Die verstehen darunter natürlich auch etwas sehr Bescheidenes – wie das "continental breakfast". Die hermeneutische Philosophie macht die Grundannahme, daß – mit Heidegger gesagt – das Wahrheitsgeschehen erstens eine Geschichte ist und zweitens damit immer in ein Ganzes gehört, ein bewegtes und damit offenes Ganzes. Ich habe die so verstandene hermeneutische Philosophie abgegrenzt von der Dialektik. Ich meine nicht nur die Dialektik etwa des dialektischen Materialismus, die eindeutig von einer Ganzheitskonzeption ausging, sondern auch ein Verständnis von Dialektik wie bei Erich Heintel. Heintel begreift die Hermeneutik lediglich als Einzelwissenschaft, die eben deshalb nie in Grundsatzfragen mitsprechen könne. Im übrigen geht er davon aus, daß er dialektisch diesen Prozeß auf seine Grundbegriffe bringen kann. Insofern ist er ein genuiner Hegelianer, was ich dann vom Hermeneutischen her eben nicht bin. Und dann kommt hinzu, daß ich für den hermeneutischen Ansatz keinen Exklusivitätsanspruch erhebe. Man kann in der Tat den dialektischen Ansatz wählen und diesen kritisch begrenzen. Oder aber man geht mit der analytischen Philosophie davon aus, daß Philosophie immer nur analytisch etwas klären kann, z. B. was Poiesis und was Praxis ist, ohne dann freilich, was unbefriedigend bleibt, solche Klärungsarbeit in einen größeren Kontext zu stellen. Rorty beispielsweise hat ja eben deshalb sich von der analytischen Philosophie zur Hermeneutik gewandt. Noch bis Ende der 60er Jahre war die Hermeneutik in den Vereinigten Staaten eine Sekte, die einzelne Universitäten hatten, sonst aber im Grunde von der analytischen Philosophie ausgeschlossen wurde. Ich weiß aber noch, wenn 1969 die Studenten in Amerika das Wort "hermeneutics" hörten, dann bekamen sie strahlende Augen. Und dann dachten sie an so etwas wie die Studentenrevolution – was überhaupt gar nichts damit zu tun hatte. Gadamer z. B. galt bei den amerikanischen Studenten als Hermeneutiker und damit als ein Philosoph der Studentenrevolution.

JPh: Wußte das Gadamer? War ihm das klar?

Pöggeler: Ja, zum Teil, darauf hat er gesetzt. Ich selbst habe zuerst das Wort "hermeneutisch" nicht gebraucht, weil ich es, von Oskar Becker herkommend, für einseitig hielt. So meinte ich, den Begriff "hermeneutisch" nicht gebrauchen zu können, und wollte mit Vico lieber von "Topik" sprechen. Aber "topisch" können Sie nicht ins Englische übersetzen. "Topical" heißt einfach: Man hat einen Gegenstand, ein Thema. Und deshalb ist mir klargeworden, daß man, wenn man einen Grundbegriff wählen und in den Vereinigten Staaten Vorträge halten will, "hermeneutics" nehmen sollte. Und ich habe in der Tat, Gadamer folgend, darauf gesetzt, daß die Amerikaner das auch verstehen. In bezug auf Heidegger war ich freilich, als ich 1969 in den USA über Heidegger referieren sollte, völlig alleingelassen. Ich mußte jedes Wort selber übersetzen. "Ereignis" z. B.: Theodore Kisiel hatte damals "happening" übersetzt; andere übersetzten "event", und dann sagte man "appropriation". Aber da habe ich gesagt, das ist mir nicht genug, und habe "appropriation-event" gesagt. Das war ungeheuer schwierig. Wenn Sie dagegen heute in Amerika "appropriation" sagen, da weiß man, das ist Heideggers "Ereignis". Da ist eben doch in den letzten dreißig Jahren sehr viel geschehen.

Doch um noch einmal auf Ihre Frage nach den "Vorurteilen" meines hermeneutischen Philosophierens zu sprechen zu kommen, so würde ich betonen: Als Hermeneutiker weiß ich, daß der eigene Ansatz partikular ist und andere Ansätze wie der analytische und dialektische möglich sind. Das hätten die früheren analytischen Philosophen ja nicht akzeptiert. Aber seit Rorty und vielen anderen hat sich das vollkommen geändert, nicht zuletzt unter dem Eindruck schockierender gesellschaftlicher Entwicklungen wie der Städteprobleme Ende der 60er Jahre.

JPh: Sie klagen für die Hermeneutik einen universalen Anspruch auf Verbindlichkeit ein, nicht minder entschieden aber vertreten Sie einen Pluralismus des Philosophierens, der jedem philosophischen Ansatz sein Recht zuerkennt. In diesem Betracht sprechen Sie auch von einer offenen Hermeneutik. Wenn bei der beanspruchten Verbindlichkeit des Philosophierens dessen gleichzeitiger Pluralismus offensichtlich keine Beliebigkeit meinen soll – wie definiert sich die Offenheit der Hermeneutik? Kennt sie kritische Maßstäbe? Und wie situiert sie sich im Geflecht der verschiedenen Ansätze?

Pöggeler: Vielleicht darf ich da sagen, daß ich in diesem Punkt sehr stark durch Karl-Otto Apel beeinflußt bin. Von Apel habe ich viel gelernt. Im Vorwort zu seinem 1963 erschienenen Vico-Buch entwickelt er ja sehr schön, daß es drei philosophische Hemisphären gibt: die Dialektik, oft politisch mißbraucht, im Osten und rückwirkend auch noch hier, in den USA die analytische Philosophie, die damals noch ein Block war, und hier in Europa die Existenzphilosophie und Metaphysik. Ich habe freilich den Ausdruck "Hermeneutik" als glücklicher empfunden. Von einer hermeneutischen Philosophie her kann man die analytische Philosophie als einseitigen Ansatz gelten lassen, sofern die eigene Einseitigkeit erkannt wird. Die dialektische Philosophie mag die hermeneutische Philosophie als verschwommen ansehen. Doch verlangt sie nicht zu viel? "Ich schwimme, also bin ich", sagte, glaube ich, Odo Marquard mit Blick auf die Hermeneutik, was natürlich als Einwand gemeint war. Apel hat dann allerdings eine Wende zur transzendentalen Letztbegründung vollzogen. Das, glaube ich, geht aber nicht. Da beansprucht Apel für die Philosophie zu viel. Für mich ist die von ihm beanspruchte letzte Grundlegung nicht überzeugend, zumal er mit Hegel kommt und nichts von Hegel versteht, statt dessen immer wieder nur ein paar Platitüden vorbringt. So kann man sich nicht auf Hegel berufen.

JPh: Das heißt aber doch, daß es für Sie Positionen gibt, denen Sie ihr Recht absprechen würden, entgegen einem Pluralismus des Philosophierens?

Pöggeler: Ich muß natürlich auch Gründe dafür anführen, warum ich bei dem bleibe, was ich denke, obwohl ich die anderen anerkenne. Apel aber ist der Auffassung, daß dieser Pluralismus durch eine Letztbegründung selber noch einmal begründet werden muß, um systematisch die verschiedenen Ansätze auf ihr Recht zurückführen und eingrenzen zu können. Da bleibe ich in der Tat lieber offener und schwimme lieber, um ehrlich zu bleiben, als etwas zu beanspruchen, was es so nicht gibt. Anders gesagt, ich meine, daß man nicht sagen kann: wenn überhaupt Verbindlichkeit, dann eine Letztbegründung.

JPh: Das eigentliche Kriterium dafür, eine Position als problematisch zu erachten und sie zurückzuweisen, wäre also, daß sie sich gewissermaßen außerhalb eines Gesprächs mit anderen ansetzt und einen letzten Ort beansprucht?

Pöggeler: Genau. Einem jeden Ansatz liegt von Anfang an eine Grundentscheidung zugrunde, ein Ausgangsort gleichsam, der nicht durch eine Letztbegründung abgesichert werden kann. Was meinen Ansatz betrifft, würde ich darum auch nicht andere zwingen, ihm zu folgen. Das will Apel aber im Grunde, und deshalb versteht er gar nicht, daß die anderen, die er überzeugen will, dann immer wieder zurückschrecken.

JPh: Das sieht man auch daran, wie sehr er – genauso wie Habermas – z. B. französische Denker ziemlich negativ und einseitig rezipiert. Aber das ist ein Punkt, den wir noch eigens ansprechen wollen: Wie würden Sie Ihr hermeneutisches Philosophieren im gegenwärtigen philosophischen Diskurs genauer verorten? Wie würden Sie sich, um die Frage zu konkretisieren, von einem sogenannten "nachmetaphysischen" Denken à la Habermas, Rorty oder Derrida abgrenzen?

Pöggeler: Was Derrida angeht, muß ich doch sagen, daß er für mich nicht Phänomenologe in meinem Sinn ist. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen, an seiner Auslegung des Husserlschen Fragmentes zur Geometrie. Husserl hat ja Oskar Becker auf diese Problematik angesetzt. Becker sagt, die euklidische Geometrie sei ontologisch oder transzendental gerechtfertigt als die einzige mögliche Geometrie des menschlichen Anschauungsraumes. Wenn wir aber in mikrophysikalische oder makrophysikalische Bereiche gehen, gibt es andere Geometrien. Welche dann überhaupt anwendbar sind, muß im einzelnen bedacht werden. Das ist die Beckersche Unterscheidung, die so von Husserl nicht vorbereitet ist, aber von Husserl aufgenommen wurde und meines Erachtens phänomenologisch ist. Derrida dagegen kritisiert und rührt die Grundlagen der Geometrie mit Husserl auf, kehrt aber nicht zum Versuch zurück zu fragen, ob die euklidische Geometrie nicht doch eine Rechtfertigung habe. So hält man bei Derrida am Schluß überhaupt nichts mehr in den Händen. Man müßte jetzt natürlich auch andere Problemfelder anschließen – Lacan und Freud usw. Hat Freud nicht doch darin recht, daß es so etwas wie Archetypisches in unserer Seele gibt, daß wir uns immer so verhalten, wie wir uns verhalten, daß es darüber hinaus aber auch geschichtlich Geprägtes gibt? Diese genuin phänomenologische Frage, die auch mit Binswanger angegangen werden könnte, fällt bei Derrida aus. Deshalb würde ich mich von ihm in diesem Punkt abgrenzen.

Bei Rorty verhält es sich natürlich etwas anders, zumal Rorty zuerst einmal eine Erweiterung des Pragmatismus vornimmt. Wenn er dann schließlich sagt, es gebe die private und die öffentliche Sphäre, dann ist das jedoch zu kurz gefaßt. Das entspricht meinetwegen der amerikanischen Verfassung, sieht aber nicht das, was Hegel die bürgerliche Gesellschaft genannt hat. Das kann Rorty nicht anerkennen, und wenn man ihn fragt: Warum können Sie nur private und öffentliche Sphäre als Grundsphären anerkennen? – dann heißt es: Das steht in unserer Verfassung. Und fragt man weiter: Warum haben Sie die Verfassung? – ist die Antwort: Die haben wir, weil wir sie haben. Das ist natürlich doch ein bißchen unzureichend.

JPh: Ein bewußter Rückzug auf das Sein als Amerikaner.

Pöggeler: We are Americans, kann man dann eigentlich nur sagen. Man muß doch auch z. B. die Asiaten bedenken, bei denen die Verhältnisse andere sind. Unser Begriff der Öffentlichkeit wird so, wie wir ihn fassen, d. h. mit dem amerikanischen Gegensatz zur Privatsphäre, von Asiaten überhaupt nicht nachvollzogen. Da wäre mehr Behutsamkeit angesagt.

JPh: Was die Phänomenologie betrifft, haben Sie darauf hingewiesen, daß sich die einzelnen phänomenologischen Wege 1929 getrennt haben. Von dieser Vervielfältigung der Perspektiven hat die Phänomenologie sicherlich profitiert. Ist es aber nicht doch auch so, daß sich einzelne abgeschlossene Schulen ausgebildet haben, die kaum mehr miteinander reden? Wie beurteilen Sie diese Entwicklung, und wo sehen Sie produktive Ansätze in der heutigen Phänomenologie?

Pöggeler: Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß ich bei Oskar Becker studiert habe und auch von der Philosophie der Mathematik bei ihm ausgegangen bin. Ich habe auf 1929/30 hingewiesen anhand des Begriffes der Möglichkeit. Nach Becker gibt es zwei Möglichkeitsbegriffe: den klassischen, wo die Möglichkeit einfach nur die Wirklichkeit, die immer so ist, wie sie ist, ermöglicht: 2 mal 2 ist immer 4, und dann den Heideggerschen Begriff der Möglichkeit, der an den Historismus und den christlichen Glauben anknüpft und also eine offene, erst in der Geschichte zu sich selber findende Möglichkeit ist. Von da aus hat Becker schon 1930 den sogenannten Modalitätenkalkül entwickelt. Heute wird das gänzlich unabhängig von der Phänomenologie studiert, sozusagen aus der reinen Sachproblematik heraus, während die Ästhetik von Becker phänomenologisch rückgebunden ist. Niemandem, der sich heute in den Vereinigten Staaten auf Becker beruft, wenn er über den Modalitätenkalkül spricht, kommt es überhaupt in den Sinn, daß das etwas mit Heidegger z. B. zu tun hat oder auch mit Husserl. Das ist ein Beispiel dafür, daß 1929 die Wege so auseinandergingen, daß sie zu beziehungslosen Ergebnissen geführt haben. Leider studiert man heute ja auch vielfach, nicht nur in den Vereinigten Staaten, Heidegger, ohne Husserl zu lesen. Das ist für mich immer unverständlich gewesen, aber das ist so, oft auch hier bei unseren Studenten. 1929 freilich war die Diskussion zwischen Heidegger und Husserl noch lebendig, als Husserl seinen Encyclopaedia-Britannica-Artikel hatte schreiben müssen. Aber dann brach Husserl mit Heidegger nach der Antrittsvorlesung "Was ist Metaphysik?" im Juli 1929. Frau Heidegger erzählte mir, das sei der Schlußpunkt gewesen. Wie sie aus der Vorlesung rausgekommen wären, da hätte Frau Husserl ganz giftig zu ihr gesagt: Ihr Mann muß jetzt erst mal wieder ins Seminar zu meinem Mann kommen. Während Frau Heidegger meinte, ihr Mann sei doch mit Sein und Zeit bereits der Berühmtere gewesen. So haben sich die beiden Frauen wie Brünhild und Kriemhild vor dem Wormser Dom gestritten, und deshalb war der Familienzusammenhang seit 1929 aufgehoben. Sie müssen sich klarmachen: Früher war Heidegger Kind im Hause Husserl. Nach Jaspers sprachen Husserls von Heidegger als "unserem phänomenologischen Kind". 1929 jedoch war Schluß. Aber gleichzeitig entwickelte sich aus der Phänomenologie etwas wie dieser Modalitätenkalkül von Becker, was heute nicht mehr mit der Phänomenologie verknüpft wird. Das ist schlicht zu akzeptieren. Man kann ja auch nicht sagen, ein Schulzusammenhang müsse sich immer durchhalten. Entscheidend ist der Bezug zur Sache.

JPh: Unsere nächste Frage zielt auf Aufgabe und Ort der Hermeneutik und überhaupt der akademischen Philosophie im gegenwärtigen Gespräch der Wissenschaften. Uns würde interessieren, wie Sie dazu Stellung nehmen würden. Man kann ja heute oft den Eindruck gewinnen, als lege man auf philosophische Grundsatzfragen nicht sonderlich Gewicht bzw. als sollten Philosophen nur nachträglich legitimieren, was sowieso schon beschlossene Sache sogenannter Experten ist – wie z. B. in der Bioethik. Könnte insofern Heidegger nicht auf gewisse Weise recht behalten, wenn er sagt, die Wissenschaft denke nicht?

Pöggeler: Man kann in der Tat beobachten, daß, wie bei der jüngst erfolgten Zusammenlegung der beiden Bonner Philosophischen Seminare, die philosophische Ethik als Grundlagendisziplin mehr und mehr verschwindet. Dazu muß man einfach sagen: So geht es nicht. Denn es ist doch eine Illusion, eine medizinische Ethik zu betreiben, ohne an den ganzen Menschen zu erinnern. Da muß man etwas mehr wissen oder mehr erfragen, als für diese Einzeldisziplin gültig ist. Ich halte diese rein pragmatische Unterwerfung der Philosophie aus äußeren, letztlich von der Gesellschaft vorgebrachten Gesichtspunkten heraus für unsinnig und vor allem für unphilosophisch. Es stellen sich heute der medizinischen Ethik ganz große Probleme: wie z. B. die Problematik der Transplantation in einen größeren Kontext einzuordnen ist. Da muß man begründen, wieso der Mensch sich ethisch verhalten kann, was dafür die Voraussetzungen sind und wie diese ein Ganzes ergeben. Vielleicht könnte man sogar von Metaphysik sprechen, wie Scheler das getan hat.

JPh: Was, meinen Sie, wird aus der Philosophie, wenn nur noch ein Nutzenkalkül das Sagen hat?

Pöggeler: Ich hatte gerade dieses Bonner Beispiel genannt. Hier in Bochum fragt man ja auch: Wie kann man etwa eine Hegel-Edition so machen, daß sie den anderen Philosophen "nicht schadet"? Dieser Ausdruck – ich habe den immer wieder in den letzten zwei Jahren gehört. Das ist doch absurd! Philosophie will aufstören! Und wenn ihr das nicht mehr erlaubt ist, soll man doch ganz auf sie verzichten. Aber diese Fragen führen natürlich zu weit.

JPh: Ein zentrales Spannungsfeld von Universalismus und Pluralismus ist heute die Debatte um die Menschenrechte. Wie würden Sie sich aus der Perspektive einer offenen Hermeneutik zu dieser Problematik stellen?

Pöggeler: Ich würde davon ausgehen, daß die Frage der Menschenrechte politisch vorgegeben ist. Aber ich würde als Philosoph sagen, daß wir in unserer Tradition mit unserem Bild des Menschen zu einem ganz bestimmten Katalog von Menschenrechten gekommen sind. Ich würde sogar zugeben, daß dieser Ansatz das Gültige mit dem Spezifisch-Geschichtlichen verbindet. Man sollte anderen Kulturkreisen mindestens zugestehen, daß sie sich aus ihrem geschichtlichen Horizont heraus diesen Fragen zuwenden können – ohne deshalb schon die Sache, um die es geht, aus der Hand gegeben zu haben oder zu geben. Sonst wird man mit ihnen nicht ins Gespräch kommen. Hierbei ist natürlich zuzugeben, daß mit Heideggers Philosophieren nichts auszurichten ist. Heidegger hat sich die Frage nach den Menschenrechten überhaupt nicht vorstellen können; die Französische Revolution – sie beruhte für ihn auf einem abstrakten Denken, das abgetan werden muß. Heidegger also kann da sicherlich nicht maßgeblich sein, aber wir hatten ja an Werner Maihofer erinnert – von ihm sind diese Fragen früh auch aus der Phänomenologie heraus eingebracht worden.

JPh: Vorhin haben Sie den schönen Satz gesagt, Philosophie solle aufstören, beunruhigen und sich nicht einem bloßen Nützlichkeitsdenken unterordnen. Insofern wollten wir noch einmal auf den Anfang unseres Gesprächs zurückkommen. Wir hatten Sie gefragt nach dem Verhältnis von Kunst und Politik und würden jetzt noch gerne auf das Verhältnis von Philosophie und Ökonomie zu sprechen kommen. Die sogenannte Globalisierung wirft ja das Problem auf, wie die Politik angesichts einer Dominanz des Ökonomischen noch zum Zuge kommen kann. Was hat in Ihrer Sicht die Philosophie zu diesen Tendenzen zu sagen, und zwar in anderer Weise als beispielsweise Fukuyama?

Pöggeler: Nun, es kommen alle fünf Jahre neue Begriffe. Jetzt ist der Begriff der Globalisierung in den Vordergrund getreten, und das hängt natürlich damit zusammen, daß vor allem die Informationswege unglaublich verbessert worden sind. Insofern steht die Wirtschaft heute sicherlich unter völlig neuen Bedingungen. Aber gerade deshalb verschwindet die Politik nicht bzw. sollte es nicht tun. Das ist, glaube ich, ein Kurzschluß, der absolut zurückzuweisen ist und die Sache gar nicht faßt. Politik ist nötig. Sie muß auf die Globalisierung und deren Herausforderungen angemessen reagieren, wobei natürlich zuzugeben ist, daß im "globalen" Rahmen die ordnenden Institutionen oft noch ausgebildet werden müssen.

JPh: Die Politik reagiert allerdings oft nur auf eine ganz bestimmte Weise, argumentiert z. B. nur mit Sachzwängen, mit einer Logik des Abbaus des Sozialstaates, und es gibt wenige, die dagegen anreden.

Pöggeler: Der Sozialstaat ist zweifellos wichtig, ich fürchte aber auch, daß er die im einzelnen sehr schwierigen Entscheidungen der Politik nicht wird verhindern können. Die Politik ist heute insofern allerdings, wenn man die Augen nicht verschließt, viel stärker gefordert, als sie das früher war.

JPh: Herr Pöggeler, wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch.