Anmerkungen zu einer Phänomenologie des Gefühls philosophischer Überlegenheit

Rolf Elberfeld (Hildesheim)

»Decolonising the Mind«[1] Ngugi wa Thiong’o, Decolonising the Mind: The Politics of Language in African Literature, Nairobi, London 1986: Heinemann Kenya. } ist zu einem Schlagwort geworden, um die akademische Wissensproduktion an Universitäten – nicht nur in Europa – im Zusammenhang mit dem Kolonialismus seit dem Beginn der europäischen Expansion kritisch zu reflektieren und zu überwinden.[2] Die Flut der Literatur zu diesem Thema ist inzwischen kaum noch zu überblicken. Im Vergleich zu anderen Geisteswissenschaften hat die Philosophie vor allem im deutschsprachigen Bereich dieses Thema erst in jüngster Zeit für sich entdeckt. Blickt man speziell auf die Diskurse in der Phänomenologie, so ist dieses Thema noch so gut wie gar nicht präsent. Wie für alle anderen akademischen Fächer, Methoden und Themen könnte leicht das Schlagwort »Decolonizing Phenomenology« geprägt werden, so dass der Ansatz der Phänomenologie insgesamt in dekolonialer Perspektive betrachtet werden würde. Diesen Weg werde ich nicht gehen.

Ich möchte dagegen im Folgenden die phänomenologische Perspektive nutzen, um ein Gefühl zu thematisieren, in das ich selbst als deutscher, weißer, männlicher Professor für Philosophie verstrickt bin, da dieses Gefühl von Anfang an mit den Themen und Methoden der Philosophie – mehr oder weniger unbemerkt – an Universitäten vermittelt wird. Es ist das Gefühl philosophischer Überlegenheit, das nicht nur durch die philosophischen Inhalte und Methoden, sondern auch durch den historisch gewachsenen Nimbus des Wortes »Philosophie« im Studium der Philosophie – zumindest in Westeuropa und Nordamerika – mit erzeugt wird. Zu diesem Nimbus merkt Pierre Bourdieu kritisch an: »Man wurde ›Philosoph‹, weil man ausgezeichnet worden war, und zeichnete sich aus, indem man sich die prestigereiche Bezeichnung ›Philosoph‹ sicherte. Die Entscheidung für Philosophie, Indiz einer statusbedingten Selbstsicherheit, verstärkte die statusbedingte Selbstsicherheit (oder Überheblichkeit) weiter.«[3] Dieses Gefühl der Überlegenheit – das innerhalb der europäischen Wissenschaften im Allgemeinen und den Geisteswissenschaften im Besonderen, aber insbesondere auch in der Philosophie gefunden werden kann – ist nach meiner Auffassung ein zentrales und treibendes Motiv in der durch die europäische Expansion geprägten Wissensentwicklung seit 1492. Es hat vor allem im 18. und 19. Jahrhundert u.a. dazu geführt, dass Europa sich selbst in verschiedenen Geschichtsschreibungen als Höhepunkt der Philosophiegeschichte und der Weltgeschichte überhaupt inthronisiert hat. Die in dieser Zeit entwickelten Philosophien und geisteswissenschaftlichen Interpretationen wurden dann spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhundert auch zum Lehrkanon an vielen neugegründeten Universitäten weltweit. Dort löste das Gefühl der Überlegenheit, das in den Texten mehr oder weniger explizit zum Ausdruck kam, schon früh auch Gegenbewegungen aus. Dieser Situation werde ich im Folgenden weiter nachgehen.

Ein Gefühl von Überlegenheit kann in allen lebensweltlichen Situationen angetroffen werden. Es taucht auf zwischen Erwachsenen und Kindern, Männern und Frauen, Menschen verschiedener Herkunft usw. Im Folgenden kann ich dieses Gefühl nicht in aller Breite verfolgen, vielmehr soll es darum gehen, Anhaltspunkte zu gewinnen, wie dieses Gefühl in philosophischen Kontexten wirksam ist. Hierzu liegen bereits wichtige Studien für die innereuropäische Perspektive vor.[4] Auch Studien, die explizit das Gefühl der Überlegenheit in der »westlichen« Philosophie ausgehend von der dekolonialen Kritik thematisieren, sind in neuerer Zeit erschienen.[5] Dabei wird deutlich, dass dekoloniale Kritik, die weltweit an die »westliche« Philosophie herangetragen wird, auch auf das Gefühl philosophischer Überlegenheit reagiert, das in europäischen Texten der Philosophie mehr oder weniger direkt wirksam ist.

Ein Gefühl philosophischer Überlegenheit lässt sich bereits in den griechischen Texten der Philosophie finden, da sich die Griechen allen »Barbaren« gegenüber als überlegen empfanden. Auch die römischen und christlichen Texte der Philosophie sind von einem Gefühl philosophischer Überlegenheit geprägt, ohne im engeren Sinne rassistisch zu argumentieren, da das Wort »Rasse« in den Wissenschaften noch nicht verwendet wurde. Mit dem Beginn der europäischen Expansion wird das europäische Gefühl der Überlegenheit zu einem der treibenden Momente der philosophischen Entwicklung. Aus dem Gefühl, allen anderen überlegen zu sein, entstehen nach und nach philosophische Theorien, die die Vormachtstellung Europas in der Welt untermauern und legitimieren. So entsteht die Rassentheorie, in der das Gefühl philosophischer Überlegenheit naturalisiert wird, erst im 18. Jahrhundert. Ein Gefühl philosophischer Überlegenheit ist aus diesem Grunde nicht sofort mit Rassismus zu identifizieren, aber es ist eine notwendige Voraussetzung für diesen. Im Folgenden kann die These, dass die Entwicklung der europäischen Philosophie seit den Griechen mehr oder weniger explizit mit dem Gefühl der philosophischen Überlegenheit verbunden ist, nicht entfaltet werden; vielmehr soll sie im Zusammenhang mit außereuropäischen Reaktionen und Perspektiven thematisiert werden.

Vorab noch eine Klärung zum Zusammenhang von Philosophie und Gefühl. Die Philosophie identifiziert sich heute weitgehend mit der Arbeit am Begriff. Bei Platon und Aristoteles ist aber ein zentraler Auslöser für diese Arbeit am Begriff das Gefühl des Staunens. Unbeschwert und staunend – nach Aristoteles können eigentlich nur die philosophieren, die über Geld und Muße verfügen – die Zusammenhänge der Welt zu erforschen, bedeutet, die Praxis des Philosophierens mit einer privilegierten Position im Leben zu verbinden. Im Vergleich dazu wird heute Philosophieren in vielen de- und postkolonialen Kontexten von einem grundlegenden Gefühl der Marginalisierung und Unterdrückung begleitet oder sogar getragen, ein Gefühl, das durch die institutionalisierten Machtstrukturen immer wieder bestärkt wird. Es ist naheliegend, dass ein solches Ausgangsgefühl andere Themen des Philosophierens für wichtig hält als der unbeschwert staunende Zugang. Wird ein Philosophieren von einem Gefühl der Überlegenheit bestimmt und getragen, so ergibt sich daraus eine Haltung, die im Rahmen der Argumentation immer die beste und umfassendste zu sein beansprucht. Hier bleibt kaum Platz für eine radikal skeptische und selbstkritische Einstellung. Die Gefühle zu thematisieren, die eher unterschwellig die Praxis des Philosophierens und die Haltung der Philosophierenden bestimmen, ist methodisch gesehen nicht leicht. Das Gefühl philosophischer Überlegenheit fällt vor allem Menschen auf, die in der Begegnung mit sich überlegen Fühlenden in ihrem Handeln beschränkt bzw. beeinträchtigt werden. Ich möchte daher mit meinen Überlegungen die Aufmerksamkeit auf die Wirkungen des Gefühls philosophischer Überlegenheit in außereuropäischen Kontexten der Philosophie lenken.

Im Folgenden sollen drei Beispiele einbezogen werden. Die drei Beispiele stammen aus philosophischen Kontexten im 20. Jahrhundert in Japan, Lateinamerika und Afrika. Nur in einem Zitat wird das Gefühl der Überlegenheit direkt thematisch. In den beiden anderen Beispielen zeigt es sich eher indirekt und implizit und verbindet sich im letzten Beispiel mit direktem Rassismus. Ausgehend von den drei Beispielen möchte ich verdeutlichen, wie sich Grundhaltungen des Gefühls philosophischer Überlegenheit zeigen. In den Analysen geht es nicht darum, alle Machtstrukturen des Kolonialismus und Rassismus in den Blick zu bringen, sondern um die These, dass das Gefühl der Überlegenheit wesentlich dazu beigetragen hat, blinde Flecken der Reflexion in der europäischen Philosophie zu erzeugen und zu stabilisieren, die bis heute wirksam sind.

Das erste Zitat stammt von Kitarō Nishida (1870-1945), dem Begründer der modernen japanischen Philosophie: »Die Europäer neigen dazu, ihre eigene bisherige Kultur für die einzig hochentwickelte und beste zu halten. Sie haben die Tendenz zu meinen, dass, wenn andere Völker auch einen Entwicklungsfortschritt vollziehen, diese genauso wie sie selber werden müssten. Ich halte dies für eine kleinliche Eingebildetheit.«[6] Diese Kritik wurde von Nishida im Jahre 1937 geäußert. Nishida, der in hohem Maße mit der europäischen Geschichte der Philosophie vertraut war, versuchte einen eigenen Weg des Philosophierens zu entfalten, der sich nicht einfach unter »europäische Philosophie« subsumieren lässt.[7] So blickt er zum einen von außen auf die europäische Wirkungsgeschichte der Philosophie, die er zugleich sehr gut von innen kannte. Zum anderen war er aber auch vertraut mit den philosophischen Wirkungsgeschichten in Indien, China und Japan. Ausgehend von dieser hermeneutischen Situation trat ihm zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Texten der europäischen Philosophie und im kulturellen Führungsanspruch Europas immer wieder ein absoluter Wahrheits- und Geltungsanspruch entgegen, der mit dem impliziten oder expliziten Druck verbunden war, sich der europäischen Philosophie anzugleichen. Dieser Anspruch entsteht dann, wenn philosophische Ansätze versuchen, die Ebene der Kontingenz vollständig zu übersteigen, um einen Wahrheitsanspruch zu generieren, der für alle Menschen zu jeder Zeit gelten soll. Wenn die Unterscheidung zwischen kontingenten Ebenen des Denkens und einem allgemeinen Anspruch auf Wahrheit in sehr scharfer Weise getroffen wird, geht damit einher, dass die sich selbst für gelungen haltende Praxis des Philosophierens einen Wahrheitsanspruch vertritt, der – wie bei Kant – nur noch eine einzige »wahre Philosophie«[8] bzw. eine einzige wahre Praxis des Philosophierens zulassen kann.[9] Die selbstinszenierte Partizipation des Denkens an der höchsten Wahrheit gibt den Denkenden das Gefühl eines besonderen Gelingens, das bei Aristoteles als höchste Glückseligkeit beschrieben wird, die nur in der Praxis des begrifflichen Theoretisierens erreicht werden kann, die zugleich die höchste Form der Praxis überhaupt ist. Durch diese im Denken erzeugten Evidenzen erfahren Denkende für sich einen besonderen Wert und Anspruch, der darin besteht, dass sie nun die Möglichkeit sehen, allen anderen Menschen die Wahrheit vermitteln zu können und zu müssen – auch wenn die Philosophierenden dabei zumeist nur unter sich bleiben. Ein solcher Anspruch im Philosophieren erzeugt aus der Innenevidenz dieser Praxis ein mehr oder weniger explizites Gefühl philosophischer Überlegenheit, das sich selbst im Rahmen dieser Praxis des Philosophierens nicht mehr beobachten lässt, da es als Gefühl kein notwendiger Faktor des begrifflichen Philosophierens ist. Dieses Gefühl wird aber umso deutlicher von außen wahrgenommen, da diejenigen, die diesem Wahrheitsanspruch begegnen, den mit philosophischen Argumenten aufgebauten Druck empfinden, sich dem Wahrheitsanspruch anpassen zu müssen.

(1) Die erste Grundhaltung des Gefühls philosophischer Überlegenheit besteht darin, dass ein philosophischer Ansatz nicht nur in quasi »neutraler« Weise einen Wahrheitsanspruch vertritt, sondern implizit auf der Ebene der Haltung den Anspruch vermittelt, alle anderen in der Philosophie Tätigen müssten diesen Ansatz des Philosophierens übernehmen, da er der einzig richtige sei bzw. den höchstmöglichen Wahrheitsanspruch vertrete. Es ist somit ein Exklusivanspruch auf die Wahrheit, der mit dem Gefühl philosophischer Überlegenheit einhergeht.

Das zweite Beispiel stammt aus dem philosophischen Kontext Lateinamerikas. Enrique Dussel (geb. 1934) erhielt seine philosophische Ausbildung in Argentinien. Diese Ausbildung umfasste ausschließlich Texte und Inhalte der europäischen Wirkungsgeschichte. Erst im Laufe der Zeit wurde ihm ausgehend vom lateinamerikanischen Kontext – in dem bis heute starke Erinnerungen an die europäische Expansion wachgehalten werden – und einem längeren Studienaufenthalt in Europa klar, dass die Lebenswelt und vor allem die Bildungswelt Lateinamerikas in der Mitte des 20. Jahrhundert noch ganz von der kolonialen Dominanz Europas geprägt war. Stimmen und Perspektiven der Menschen, die von den kolonialen Mächten brutal verdrängt, ermordet und versklavt wurden, kamen insbesondere im Bildungskanon gar nicht vor. In diesem Sinne hatte der europäische Bildungskanon die intellektuelle Elite – egal aus welchem kulturellen Kontext sie stammte – vollständig kolonisiert. In der Folge empfand Dussel das Gefühl philosophischer Überlegenheit Europas immer stärker, je mehr er sich mit der Geschichte Lateinamerikas befasste und ihm die Verstrickungen der europäischen Philosophie mit den kolonialen Eroberungen vor Augen traten. Ausgehend von diesen Studien entstand eine Interpretation der europäischen »Moderne«, die diese direkt mit dem europäischen Kolonialismus verband. Darüber hinaus verknüpfte er die Tätigkeit der Eroberung mit einem Grundmotiv neuzeitlicher Philosophie, das für deren Entwicklung von überragender Bedeutung war: »Vom ›Ich erobere‹, das in der Welt der Azteken und Inkas in ganz Amerika gilt, vom ›Ich versklave‹, das in der Welt der Schwarzen aus Afrika gilt, die für das Gold und Silber verkauft werden, das mit dem Tod der Indios aus den Tiefen der Minen gewonnen wird, [...] von diesem ›Ich‹ geht das Cartesianische Denken im ›Ich denke‹ (ego cogito) aus.«[10]

Dussel interpretiert das neuzeitliche philosophische Denken als ein ›eroberndes Denken‹, das mit einem tiefen Gefühl philosophischer Überlegenheit verbunden ist. Um diese Interpretation besser zu verstehen, möchte ich an das Bild erinnern, das Francis Bacons seinem »Novum Organon« voranstellt. Auf diesem Bild sind zwei Schiffe zu sehen, die bereits durch die »Säulen des Herkules« – in der alten Welt die Grenze der bewohnbaren Welt schlechthin – hindurchgefahren sind und sich auf das weite, unbegrenzte Meer begeben. Dieses Bild symbolisiert den Prozess der Wissensproduktion, den Bacon mit seiner neuen Wissenschaft in Gang bringen will. Unter dem Bild befindet sich das Motto: »Multi pertransibunt \& augebitur scientia« (Viele werden hindurchziehen und die Wissenschaft bereichern). Alle Objekte und Gegenstände der Welt sollen jenseits von Autoritäten und dogmatischen Ansichten dem forschenden und denkenden ›Ich‹ zugänglich gemacht werden. Das denkende Ich, das sich selbst als absoluter und neutraler Produktionsort des Wissens versteht und sich darin ständig selbst erzeugt, wird zum Auge, das alles andere beobachten kann, aber sich selbst prinzipiell nicht sieht. Auch dann, wenn dieses Ich sich zum Selbstbewusstsein zu erheben versucht, gerät es nur in den inneren Sog des eigenen Denkens, in dem es kein »Außen« und nichts Fremdes mehr geben kann. Da das ›Ich‹ erst dann wieder zu sich selbst zurückkehrt, wenn es alles, was »Nicht-ich« ist, in sich selbst absorbiert hat, wird das »ich denke« von der überlegenen Geste der ›Eroberung‹ begleitet. In diesem Sinne ist der Philosophie und der Wissenschaft bis heute das Motiv der ›Eroberung‹ eingeschrieben, da diese nicht zur Ruhe kommen, bevor nicht alles objektiviert und erforscht ist. In der Ethnologie, die sich im Rahmen der europäischen Expansion entwickelt hat, betraf dies alle Menschen bis hin zu den kleinsten menschlichen Gemeinschaften. Sie alle wurden mehr oder weniger freiwillig zum ›Gegenstand‹ ethnologischer Forschung. Dieser wie selbstverständlich erhobene Anspruch auf Wissen, der ganz grundsätzlich mit dem Gefühl philosophischer Überlegenheit verbunden ist, gibt sich selbst die umfassende Erlaubnis, alles und jedes zum Gegenstand der Wissenstätigkeit zu machen.

(2) Die zweite Grundhaltung des Gefühls philosophischer Überlegenheit besteht somit darin, dass die Philosophie und die Wissenschaft sich selbst die Erlaubnis erteilen, alle ›Sachverhalte‹ der Welt (hiermit sind auch alle Menschen gemeint) zum ›Gegenstand‹ der Forschung zu machen. Diese Erlaubnis kommt einer Eroberung und Kolonisierung durch Wissensproduktion gleich, da alles in die Struktur ›wissenschaftlichen Wissens‹ eingeordnet wird.

Dies wird von Menschen, die außerhalb der europäischen Wissenschaften stehen und zugleich zum Objekt dieser Wissenschaft wurden und werden, als ein ungeheurer Überlegenheitsgestus wahrgenommen. In ihrem Tun können ›Wissenschaft‹ und ›Philosophie‹ sich kaum vorstellen, dass in ihrer Praxis ethische Grenzen überschritten werden. Linda Tuhiwai Te Rina Smith bringt dies wie folgt auf den Punkt:

\startquoteN »From the vantage point of the colonized, a position from which I write, and choose to privilege, the term ›research‹ is inextricably linked to European imperialism and colonialism. The word itself is probably one of the dirtiest words in the indigenous world’s vocabulary. When mentioned in many indigenous contexts, it stirs up silence, it conjures up bad memories, it raises a smile that is knowing and distrustful. It is so powerful that indigenous people even write poetry about research. The ways in which scientific research is implicated in the worst excesses of colonialism remains a powerful remembered history for many of the world’s colonized peoples. It is a history that still offends the deepest sense of our humanity. Just knowing that someone measured our ›faculties‹ by filling the skulls of our ancestors with millet seeds and compared the amount of millet seed to the capacity for mental thought offends our sense of who and what we are.«[11] \stopquoteN

In diesem Sinne ist heute mit vollem Recht eine Debatte entbrannt, die danach fragt, welche Themen und Gegenstände überhaupt in welcher Weise zum Gegenstand von Forschung und Philosophie werden können und dürfen. Diese Fragen sind aus der Perspektive der Wissenschaften und der Philosophie höchst befremdlich, da hiermit in besonders irritierender Weise die »Freiheit der Wissenschaft« infrage gestellt zu sein scheint. Aber es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass die jeweilige Freiheit an den Grenzen der Freiheit der anderen zumindest einen Stolperstein wahrnehmen könnte.[12]

Mein letztes Beispiel stammt von Kwasi Wiredu (1931-2022), eine der prominentesten Persönlichkeiten im Kontext der Philosophie in Afrika. Ähnlich wie Dussel wurde er in seiner philosophischen Ausbildung in Ghana allein mit dem Kanon der europäischen Philosophie konfrontiert, der für afrikanische Menschen und ihre Geschichte nur Abwertungen bereithielt, die von einem massiven Gefühl philosophischen Überlegenheit hervorgetrieben wurden – man denke beispielsweise an die Äußerungen Hegels zu Afrika. Wiredu blickt im Vorwort seines Companion to African Philosophy aus dem Jahr 2003 wie folgt auf seine Zeit der philosophischen Ausbildung zurück:

\startquoteN »Philosophy departments tended not to develop the impression that there was any such thing [as African Philosophy]. I graduated from the University of Ghana in 1958 after at least five years of undergraduate study. In all those years I was not once exposed to the concept of African philosophy. […] I do not now remember what else in the literature relevant to African philosophy I knew by the time of graduation (1958) either by the grace of God or by the play of accident, except for the bare title of Radin’s Primitive Man as Philosopher. However, when I ran across or stumbled over it, the word ›primitive‹ in the title put me off, and I stayed away from its pages until a long time after graduation.«[13] \stopquoteN

Wiredu wurde in seiner philosophischen Ausbildung mit der Tatsache konfrontiert, dass der Kanon der Philosophie (was teilweise bis heute so ist) ausschließlich aus weißen Männern bestand. Nicht ein Wort wurde über afrikanische Wirkungsgeschichten des Philosophierens verloren, die sowohl in schriftlicher wie in oraler Form tradiert wurden – wie heute in genau dem Companion to African Philosophy nachzulesen ist, den Wiredu herausgegeben hat. Das einzige Buch, dem er während seiner Ausbildung begegnete, das überhaupt afrikanischen Menschen den Status von »Philosophen« zuschrieb, trug den Titel: »Primitive Man as Philosopher«. Das Buch wurde im Jahr 1927 publiziert. Zu diesem Buch schrieb John Dewey ein lobendes Vorwort, in dem er besonders begrüßte, dass das Buch eine »Klasse intellektueller Menschen« in der »Kultur primitiver Menschen« beschreibe, die als »Philosophen« interpretiert werden. Radin und Dewey sahen es als besondere Errungenschaft, den Titel »Philosophen« auch »primitiven Menschen« zuschreiben zu können. Wiredu, der selbst in Ghana geboren wurde, sah sich aufgrund des Buchtitels mit einer Zuschreibung konfrontiert, die ihn selbst auf die Rolle eines »primitiven Menschen« festlegte. Der Titel des Buches macht – möglicherweise ohne direkte Absicht – die damals als selbstverständlich geltenden hierarchischen Verhältnisse zwischen den philosophischen Wirkungsgeschichten ausgesprochen deutlich. Auch wenn das Gefühl philosophischer Überlegenheit hier nicht direkt thematisiert wird, so scheint mir der Gebrauch des Wortes ›primitiv‹ nicht ohne ein solches Gefühl möglich zu sein. In diesem Falle ist das Gefühl philosophischer Überlegenheit gerade dann wirksam, wenn im Sinne einer »guten Absicht« die »primitiven anderen« mit einbezogen werden.

Auf der Rückseite der überaus positiven und selbstbestätigenden Gefühle, die das philosophische Denken in Europa für sich selbst immer wieder erzeugt hat, zeigt sich das oft unbemerkte Gefühl philosophischer Überlegenheit, das sich vor allem gegenüber anderen Denkenden aber auch insgesamt gegenüber allen anderen Menschen in Aussagen manifestiert wie: das ist ›keine Philosophie‹, die ›Primitiven haben auch Philosophie‹, dies ist ›philosophisch nicht tief genug gedacht‹, diese Ansicht ist ›naiv‹, ›primitiv‹ oder gar ›barbarisch‹. Alles das, was über den eigenen Kriterienrahmen der philosophischen Evidenz hinausgeht, muss abgewertet bzw. unter Wahrung einer epistemischen Differenz auf Abstand gehalten werden, da ansonsten der philosophische Anspruch untergraben wird, der in einem Denken entsteht, das sich selbst für denkerisch gelungen und überlegen hält.

(3) Die dritte Grundhaltung des Gefühls philosophischer Überlegenheit besteht darin, dass mit diesem Gefühl die Notwendigkeit einhergeht, alle anderen Positionen – und dies betrifft in besonderem Maße alle geistigen Produktionen, die außerhalb Europas zu finden sind – massiv abzuwerten und mit Bezeichnungen wie »geschichtslos«, »unphilosophisch«, »naiv«, »primitiv« oder »barbarisch« zu versehen.

Es ließen sich viele weitere Beispiele aus verschiedenen Perspektiven anführen, die kritisch um dieses Gefühl der philosophischen Überlegenheit in europäischen Texten der Philosophie kreisen. Aus den genannten Gründen halte ich es für eine zentrale Aufgabe dekolonialen Philosophierens – neben vielen anderen –, dem Gefühl philosophischer Überlegenheit, das sich – nicht nur – in der europäischen Wirkungsgeschichte der Philosophie entwickelt hat, systematisch nachzugehen. Da dieses Gefühl in vielen sprachlichen Wendungen, akademischen Ritualen und körperlichen Gesten nicht nur mitschwingt, sondern ein treibendes Motiv der philosophischen Selbstbehauptung ist, stellt sich die grundlegende und dringende Frage, wie die Praxis eines Philosophierens aussehen könnte, die sich nicht mit diesem Überlegenheitsgestus verbindet. Bei dieser Frage steht auch auf dem Spiel, ob die Praxis des Philosophierens angesichts der angeführten Kritik überhaupt noch zu retten ist.

Ich vertrete die Auffassung, dass es Möglichkeiten gibt, die Praxis des Philosophierens so zu transformieren, dass das Gefühl philosophischer Überlegenheit zumindest deutlich verringert wird, da es ständig als ein blinder Fleck des Philosophierens in wechselseitiger Kritik mitbeobachtet werden kann. Eine solche Praxis des Philosophierens scheint mir vor allem dann möglich zu werden, wenn die Themen des Philosophierens immer auch zusammen mit Menschen aus verschiedenen Wirkungsgeschichten des Denkens, Reflektierens und Sprechens bedacht werden. Es sind dabei die verschiedenen Sprachen ebenso wichtig wie die verschiedenen Praktiken des Philosophierens, Denkens und Reflektierens.

Möglicherweise wäre es dafür gut und sinnvoll, die Praxis der Auseinandersetzung und Reflexion nicht mit einem konkreten Namen – wie z.B. Philosophie – zu verbinden, sondern die Bezeichnung für die gemeinsame Praxis im Gespräch zunächst offen zu lassen. Wagt man es, diese Offenheit einzugehen, werden sofort die begrifflichen, diskursiven und institutionellen Grenzen sichtbar, die mit einem solchen Versuch verbunden sind. Denn an Universitäten ist man mehr oder weniger gezwungen, im Rahmen bestimmter vorgegebener Disziplinen zu agieren. Wenn uns aber bestimmte Einsichten über diese Grenzen hinausführen, wäre eine Praxis der Auseinandersetzung zu entwickeln, die mit dieser Form der Offenheit umgeht. Maurice Merleau-Ponty scheint mir am Ende seines Lebens eine solche Praxis der offenen Auseinandersetzung zu imaginieren, die an diesem Punkt vielleicht weiterhilft. Er versucht in phänomenologischer Absicht in einen Bereich der Erfahrung vorzudringen, in dem bestimmte Unterscheidungen noch keine selbstverständliche und unumstößliche Geltung erlangt haben.[14] Merleau-Ponty schlägt vor, mit Bereichen des Erfahrens zu experimentieren, in denen es weder selbstverständlich ist, zwischen Subjekt und Objekt zu unterscheiden, noch die Bezeichnung für das, was man in dieser offenen Form von Erfahrung tut, schon feststeht. Es stehen somit alle Unterscheidungen auf dem Spiel, in die Denkende im Rahmen einer philosophischen Sprache hineinsozialisiert wurden.[15] Merleau-Ponty betont, dass keine einzelne Sprache und keine besondere Terminologie bevorzugt werden soll. Es geht vielmehr darum, ausgehend von individuellen und gemeinsamen Erfahrungen in verschiedenen Sprachen und Erfahrungsräumen neue Unterscheidungen zu erproben und zu entwickeln.

Die Art der Epoché, die Merleau-Ponty vorschlägt, ist weit radikaler als die bei Husserl. Denn bei Husserl ist ein Subjekt immer schon Voraussetzung der phänomenologischen Arbeit. Diese Voraussetzung ist innerhalb der Entwicklung der Phänomenologie selbst immer wieder hinterfragt worden,[16] gleichzeitig wurde aber nicht ausreichend darüber nachgedacht, in welcher Weise sich durch die neuen Themen der Sinn der Epoché verändert. Ob und wie die Praxis einer radikalen Epoché im Sinne einer umfassenden Zurücknahme aller grundlegenden Unterscheidungen, die in verschiedenen Philosophien als notwendig erscheinen, konkret durchgeführt werden könnte und welche Praktiken des Denkens, Sprechens und Schweigens dabei ins Spiel kämen, kann sich nur in offener und gemeinsamer Praxis zeigen. In der Praxis einer radikalen Epoché wäre auch das Wort ›Philosophie‹ zunächst außer Kraft zu setzen in dem Sinne, dass nicht zuerst darum gestritten wird, ob es sich beispielsweise bei alten chinesischen Texten um Philosophie handelt oder nicht. Es wäre dann vielmehr zu beobachten, welche sprachlichen Praktiken in den Texten in Erscheinung treten.[17] Ausgehend von einer radikalen Epoché im gerade angedeuteten Sinne wird die Aufmerksamkeit verstärkt auf die konkreten Praktiken und auf die in diesen Praktiken wirksamen Unterscheidungen gerichtet. Auf diese Weise kann eine Auseinandersetzung sehr präzise sein und zugleich offen bleiben für alternative Herangehensweisen, so dass kaum Raum dafür bleibt, sich philosophisch überlegen zu fühlen. Angesichts der dekolonialen Kritik scheint es mir an der Zeit zu sein, neue Spielräume des Denkens und Erfahrens zu erproben. In welcher Weise sich dabei die Praxis des Philosophierens selbst verändern wird, ist noch nicht abzusehen.


Anmerkungen

[1] Bekannt wurde die Wendung vor allem durch: Ngugĩ %Ng{\utilde

[2] Rolf Elberfeld, Dekoloniales Philosophieren. Versuch über philosophische Verantwortung und Kritik im Horizont der europäischen Expansion, Hildesheim 2021: Olms.

[3] Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, übers. v. A. Russer, Frankfurt a.M. 2001: Suhrkamp, S. 48.

[4] Z.B. Pierre Bourdieu, Homo academicus, übers. v. B. Schwibs, Frankfurt a.M. 1988: Suhrkamp; Heike Guthoff, Kritik des Habitus. Zur Intersektion von Kollektivität und Geschlecht in der akademischen Philosophie, Bielefeld 2013: transcript; Ulrich Barteit, Inaugurationsstrategien. Zur Genese des philosophischen Metasubjekts am Beispiel von Edmund Husserl und Martin Heidegger, Würzburg 2017: Könighausen \& Neumann.

[5] Björn Freter, »White Supremacy in Eurocentric Epistemologies: On the West's Responsibility for its Philosophical Heritage«, in: Synthesis philosophica 33, 2018, S. 237-249.

[6] Kitarō Nishida, »Wissenschaftliche Methodik«, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, 2004, Nr. 10/11, übers. v. R. Elberfeld, S. 70.

[7] Kitarō Nishida, Logik des Ortes. Der Anfang der modernen japanischen Philosophie, übers. u. hg. v. Rolf Elberfeld, Darmstadt 1999: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

[8] »Verschiedene Arten zu philosophiren [… kann es] geben; aber, da es doch, objectiv betrachtet, nur Eine menschliche Vernunft geben kann: so kann es auch nicht viele Philosophien geben, d.i. es ist nur ein wahres System derselben aus Prinzipien möglich […].« Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Königsberg 1797, Vorrede, S. VI.

[9] Vgl. hierzu die aufschlussreichen Interpretationen zur Entstehung der Analytischen Philosophie in den USA: John McCumber, Time in the Ditch. American Philosophy and the McCarthy Era, Evanston 2001: Northwestern University Press.

[10] Enrique Dussel, Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen, übers. v. C. Dittrich, Wien 2013: Turia \& Kant, S. 11 u. 13.

[11] Linda Tuhiwai Te Rina Smith, Decolonizing Methodologies. Research and Indigenous Peoples, New York 1999: Bloomsbury, S. 1.

[12] Vgl. Tilman Borsche (Hg.), Akademische Freiheit. Orte und Regeln des freien Wortes im Wandel geschichtlicher Kontexte, Freiburg 2022: Alber.

[13] Kwasi Wiredu (Hg.), A Companion to African Philosophy, Oxford 2003: Blackwell, S. 1.

[14] Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, übers. v. R. Giuliani u. B. Waldenfels, München 1994: Fink, S. 172.

[15] Katrin Wille, Die Praxis des Unterscheidens. Historische und systematische Perspektiven, Freiburg i.B. 2018: Alber.

[16] Robert Lehmann (Hg.), Philosophische Dimensionen des Impersonalen, Würzburg 2022: Ergon.

[17] Folgendes Buch unternimmt den Versuch, die Grundunterscheidungen im Hinblick auf klassische chinesische Philosophie neu zu durchdenken: Wiebke Deneke, The Dynamics of Masters Literature. Early Chinese Thought from Confucius to Han Feizi, Cambridge 2011: Harvard University Press.