»Strenge Wissenschaft« des »europäischen Menschentums«. Postkoloniale Phänomenologie nach ihrem Eurozentrismus

Thomas Bedorf (Hagen)

Die Phänomenologie steht in derselben weißen, europäischen Tradition der Philosophie wie mehr oder minder alle anderen philosophischen Strömungen auch. Sie partizipiert daher wie alle anderen auch an unreflektierten eurozentrischen Grundannahmen, unhinterfragten Universalismen und teleologischen Perspektivierungen, die marginalisiertes Wissen eben: ›marginalisieren‹. Wer sich dafür interessiert, dem kann das seit langem bekannt sein. An zwei prominente Beispiele sei erinnert.

In seinem berühmten Wiener Vortrag von 1935 vor dem Österreichischen Kulturbund »Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie« entwirft Edmund Husserl das Bild eines Europas, das sich seiner selbst nicht mehr gewiss ist. In der aus dem Nachlass herausgegebenen Schrift Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, in die der Vortrag eingeht, wird die epistemologische und kulturphilosophische These ausgearbeitet, dass die mathematisierten Wissenschaften Lebenswelt- und Subjektvergessenheit zur Voraussetzung haben. Die These, dass Europa 1935 sich in einer Krise befindet (die im Übrigen von vielen intellektuellen Zeitgenossen ähnlich formuliert wird), wird v.a. uns Nachgeborene kaum überraschen. Den Grund für die Krise formuliert Husserl nun aber nicht materiell-politisch, wie man es angesichts der Zeitumstände erwarten könnte, sondern kulturphilosophisch. Die »geistige Gestalt Europas«[1] – so Husserl – enthält eine »immanente Teleologie« vom »Gesichtspunkt der universalen Menschheit«, die eine »Epoche der Menschheit« anbrechen sieht, die »nunmehr bloß leben will und leben kann in der freien Gestaltung ihres Daseins […] aus Ideen der Vernunft, aus unendlichen Aufgaben.« (26) Diese teleologische Entwicklungslinie ist nicht nur einigermaßen idealistisch, wie man es von nahezu allen geschichtsphilosophischen Entwürfen des 18. und 19. Jahrhunderts von Condorcet bis Hegel kennt, sondern wird auch gut eurozentristisch begleitet von einer Abgrenzung zu und Abwertung von Kulturen, die in diesem geistesgeschichtlichen Sinne als »nicht-europäisch« gelten, und zwar unabhängig davon, ob sie geographisch zu Europa gehören oder nicht. So dürfen die Sinti und Roma »die dauernd in Europa herumvagabundieren« nicht dazu zählen, weil sie irgendwie (es wird nicht genauer ausgeführt: wie genau) nicht an den »Zweckgebilden« und »Organisationen« des geistigen Europas partizipieren. (26) In der Kulturbegegnung im kolonialen Kontext – namentlich in der britischen Kronkolonie Indien – werden sowohl Verbundenheiten wie Differenzen benannt. Eine gewisse »Geschwisterlichkeit« wird von einer wechselseitigen »Fremdheit« begleitet. (27f.) Diese wird aber hierarchisch geordnet, weil die Europäer etwas »Einzigartiges [haben], das auch allen anderen Menschheitsgruppen an uns empfindlich ist«. (28) Daraus folgt die Attraktion Europas, die (tendenziell alle) motiviert, »sich im ungebrochenen Willen zu geistiger Selbsterhaltung doch immer zu europäisieren, während wir, wenn wir uns recht verstehen, uns zum Beispiel nie indianisieren werden.« (28) Auch wenn Husserl das keineswegs substantialistisch meint (»keine Zoologie der Völker«), so trägt doch die Behauptung einer »Entelechie« der geistigen Überlegenheit kolonialisierende Züge, gerade weil er als Unterschiedsmerkmale »normativ[e] Ideen« (29) in Anspruch nimmt. Die unterstellte Asymmetrie besteht darin, dass »Indianisierung« anders als »Europäisierung« keinen Attraktionswert hat bzw. aufgrund fehlendem telos prinzipiell nicht attraktiv erscheinen kann.[2]

Emmanuel Levinas unterhält zur klassischen Phänomenologie ein ambivalentes Verhältnis. Das eurozentristische Erbe ihres Begründers hat er indes nicht ausgeschlagen. So sehr er Husserls Ausgangspunkt bei der leibkörperlichen Aussetzung statt bei einem philosophisch je schon (selbst)gewissen Subjekt teilt, weil damit Erfahrungen als widerständige und pathische ernst genommen werden können, statt einem blanken Idealismus oder Empirismus zu folgen, so sehr sieht er doch sowohl Husserl wie Heidegger daran scheitern, Andersheit als Andersheit wahrzunehmen (und nicht unter: Natur, Geschichte oder Sein zu subsumieren). Andersheit, die er insbesondere als personale Andersheit in der Begegnung mit anderen Menschen versteht, kann dagegen nur als ein Ereignis angemessen konzipiert werden, das sich unseren Begriffen und Zugriffen radikal entzieht. Andersheit ist ein Entzugsphänomen und damit genau genommen gar kein Phänomen: jenseits des Seins, wie der Titel eines seiner Hauptwerke heißt. Levinas ist eine Grenzfigur der Phänomenologie (eine Positionierung, die er im Übrigen mit vielen französischen postheideggerianischen Phänomenolog*innen teilt).

Die beiden Quellen, aus denen Levinas zur Erarbeitung seiner Theorie der Alterität schöpft, sind – wie er es des Öfteren formuliert – »[d]ie Bibel und die Griechen«[3]; also der historische Ort der Geburt der Philosophie (der Buchtitel Jenseits des Seins ist Platons Definition des Guten als »epikeina tes ousias« entnommen[4]) sowie ein pars pro toto für ein Denken des Hörens auf eine Stimme, deren Bedeutung nicht festgelegt werden kann. Aus seiner Lesart dieser Quellen gewinnt er ein Verständnis radikaler Alterität, die in keiner Weise auf den Begriff gebracht werden kann, deren Anspruch, sie zu »sagen«, bzw. auf sie zu antworten, man sich aber ebenso wenig entziehen kann.

Wird die Philosophie der Alterität jedoch auf konkrete bspw. interkulturelle oder historische Andersheit bezogen, gerät das Hören auf den Anderen an seine Grenze. Wie seine Lektüre von Lévy-Bruhls Ethnologie zeigt, neigt Levinas zwar in systematischer Hinsicht keineswegs zu einer Hierarchisierung zwischen außereuropäischen Kulturen und dem europäischen Denken. Vielmehr betont er die Verwandtschaft zwischen dem mystischen Denken in Abhängigkeit von Kräften, Wesen und belebter Welt einerseits und dem präreflexiv orientierten In-der-Welt-sein der Existentialphilosophie andererseits.[5] Doch wenn es darum geht, die Bilanz Europas zu ziehen, das angesichts all seiner Opfer ein »schlechtes Gewissen« hat, kommen nur die europäischen Opfer des 20. Jahrhunderts und das »Elend der dritten Welt« vor, während vom Kolonialismus wie überhaupt von der Herrschaftsgeschichte Europas geschwiegen wird.[6] Wie kann Levinas – so die postkolonial inspirierte kritische Frage – in seiner radikalen Kritik an der abendländischen Anderheitsvergessenheit den kolonialen Anderen nicht adressieren?[7] Wenn man – wie Levinas – »Athen und Jerusalem«, »the Bible and the Greeks« als das Zentrum philosophischen Denkens oder gar der »humanity« bezeichnet, unter Irrelevantsetzung alles übrigen (»all the rest can be translated: all the rest – all the exotic – is dance«[8]), scheint ein (wenn auch dezentrierter) Begriff von Europa die abwertenden Exklusionen der nicht relevanten nicht-europäischen Kulturen eine nicht nur kontingente, sondern womöglich »notwendige«[9] Gewalt darzustellen.

Was ihre Quellen und ihr Verständnis von Philosophie angeht, so hat man Levinas‘ Philosophie daher zu Recht als eurozentristisch bezeichnet oder als »structured from within by his idea of Europeanness«[10]. Levinas »richtet sich […] innerhalb der Grenzen der eigenen Kultur ein«[11], genau deswegen, weil es ihm nicht um eine Phänomenologie konkreter Gewalterfahrungen, sondern um eine elementare Ethik jenseits (oder: diesseits) der Ontologie geht. Bei aller korporalen Konkretion im Vokabular handelt es sich doch um eine Variante eines »abstract humanism«[12], der aus den zwei Quellen einer anderen Andersheit (als derjenigen der abendländischen Philosophie) ein systematisches Argument macht. Das hat ihren bleibenden Wert vor allem als immanente Kritik der abendländischen Sozial- und Moralphilosophie, aber doch weniger als aufmerksame Aufnahme konkreter Erfahrungen anderer Anderer. Eine wichtige Linie der postkolonialen Kritik an Levinas‘ Elementarethik besteht entsprechend in dem Vorwurf, sie sei gewissermaßen zu elementar. Die Struktur einer fundamentalen, vor-ontologischen Beziehung zur Alterität blende die konkreten (von der Kritik häufig so genannten: »ontologischen«) Figuren lebensweltlicher Andersheit und ihrer Exklusionen weitgehend aus.[13] So sehr sie die Dimension radikaler Alterität als Appellstruktur aller Erfahrung gegen abendländische Subjektivismen und Identitätstheorien betont habe, so sehr bliebe sie doch blind für Alteritätserfahrungen außerhalb des europäischen Horizonts.

Nimmt man die Fälle Husserl und Levinas exemplarisch, bildet die Phänomenologie keine Ausnahme von der Regel, dass europäische philosophische Traditionen weiß geprägt sind, meist ohne das (zu) wissen (zu wollen). Wenn diese Diagnose stimmt und so trivial ist, wie sie klingt, dann scheint es mir allerdings ebenso uninteressant, sie wegen ihrer Eurozentrismen zu verwerfen[14] wie sie als letzten Stand der Forschung zu verteidigen. Interessanter scheint mir zu sein, ob und inwieweit Theorietraditionen sich konzeptionell für eine Integration der eigenen Situiertheit in die Theoriebildung eignen. In dieser Hinsicht wiederum erweist sich phänomenologisches Philosophieren als produktiv, wenn man den Blick weg von den Klassikern und auf die Forschungen der Gegenwart richtet. Zeitgenössische Untersuchungen zu Erfahrungen von Rassifizierung, Disability, (Trans-)Gender, hybriden Kulturen und anderen identitätswirksamen Dimensionen personalen, segregierten Weltzugangs, die sich unter dem Banner »politischer« oder »kritischer Phänomenologie« versammeln,[15] haben gemeinsam, dass sie die »vor-ontologische« oder »transzendentale« Ausrichtung der Phänomenologie überschreiten wollen auf eine »Ontologie der Gegenwart«, die von Erfahrungen von Unterdrückung ausgehen, die die Erfahrungsräume durchziehen, sowie der Exklusion, die diese begrenzen. Wird die Abwehr der Ontologie zugunsten einer abstrakten Ethik, wie sie Levinas vornimmt, unterlaufen, kommen jene Erfahrungen zur Sprache, die in »weißen« Philosophien häufig ausgeblendet bleiben. Dabei werden Stärken der Phänomenologie prämiert, nämlich Deskription der Erfahrung und Reflexion ihrer Strukturen, aber auch unbefragte Theorieannahmen der Phänomenologie revidiert.

Indem die Phänomenologie sich dem Wie zuwendet, statt sich auf vermeintlich neutrale Was{}-Fragen zu konzentrieren, eröffnet sie – wie andere Theorieströmungen des 20. Jahrhunderts auch – die Möglichkeit, den Blick, statt ihn auf Geltungsfragen zu verengen, auf die Problematisierung der Genese zu erweitern. Die genetische Phänomenologie, wie sie Husserl nach seiner transzendentalphänomenologischen Wende genannt hat, widmet sich nicht der Suche nach dem statischen Was einer Erscheinung, sondern der Frage nach der Gewordenheit der Erscheinungen, in die unsere Vormeinungen, Vorurteile und habituell erworbenen Umgangsformen einfließen bzw. immer schon eingeflossen sind. Diese Ausrichtung schließt ein, dass der oder die Andere nicht einfach ein zufälliger Erkenntnisgegenstand eines transzendentalen Subjekts sein kann, sondern als leibkörperlich gegenwärtiger Anderer an der Konstitution des gemeinsamen Sinns immer schon mitbeteiligt ist. Die daraus sich ergebende intersubjektive, soziale und historische Dimension phänomenologischer Theoriebildung ist v.a. von den französischen Phänomenolog*innen der Nachkriegszeit ausgearbeitet worden. Aus diesen Quellen schöpfen schließlich auch jene Phänomenolog*innen, die an einer Philosophie verkörperter Rassifizierung (Linda Martín Alcoff), einer queeren Phänomenologie (Sara Ahmed), einer schwarzen Existentialphilosophie (Lewis Gordon), einer Nachzeichnung hybrider Identitäten (Mariana Ortega) oder einer Critical Philosophy of Race (Robert Bernasconi) arbeiten.[16]

Die phänomenologische Definition der »racial identity« als »lived in the body of various racialized subjects at a given cultural moment«[17] trägt der Tatsache Rechnung, dass es »Rassen« nicht gibt, gleichwohl aber Erfahrungen rassifizierter Wirklichkeiten. Mit dem von Merleau-Ponty entwickelten (und von Husserl vorbereiteten) Begriff des habitualisierten Körpers, auf den Alcoff hier rekurriert, lässt sich beschreiben, wie die rassifizierte Identität als konstitutives Element grundlegender, alltäglicher verkörperter Existenz, psychischem Erleben und sozialer Interaktion fungieren kann.[18] »Wir inhabituieren uns leiblich in die Welt, während der Leib wiederum Vermögen inkorporiert.«[19] Da der habituelle Leibkörper präreflexiv ist, ist – worauf Alcoff insistiert – eine phänomenologische Beschreibung auch nicht mit einer »Erklärung« oder gar Naturalisierung rassistischer Verhältnisse zu verwechseln.[20] Vielmehr besteht die Pointe des »nonfoundationalist approach«[21] der Phänomenologie darin, das verdeckt Bleibende rassifizierter Verkörperungen sichtbar zu machen. »A phenomenological approach can render our tacit knowledge about racial embodiment explicit.«[22] Die Visibilisierung präreflexiver Habitualitäten schafft schließlich auch die Voraussetzung dafür, sich reflexiv (d.h. bewusst) dazu verhalten zu können. Sich zur eigenen Situiertheit positionieren zu können, setzt zunächst eine Beschreibung der verkörperten Situiertheit voraus.

Das Körperschema fungiert gemäß der Definition der korporalen Phänomenologien als konstitutive Form des leiblichen Könnens, als kontingentes »Gesamtbewußtsein meiner Stellung in der intersensorischen Welt«.[23] Sara Ahmed – deren Zugang im Folgenden exemplarisch skizziert werden soll –~geht in ihren Arbeiten davon aus, dass diese phänomenologische Quasi-Transzendentalie eine Entpolitisierung bedeutet, weil die Erfahrung minoritärer, prekärer und unterdrückter Subjekte vielmehr eine des »ich kann nicht« ist: von Barrieren, Hürden, Verboten, gewaltsamen Hinderungen. Was, wenn der Leibkörper nicht kann, weil er nicht darf bzw. man ihn nicht lässt? Schon Fanon hatte ja betont, dass Rassifizierung das Körperschema »unterbricht«.[24] Dem Denken einer Erweiterung von leiblichen Möglichkeiten, wie sie Husserl und Merleau-Ponty ihren Phänomenologien zugrunde gelegt haben, stellt Ahmed eine »phenomenology of ›being stopped‹«[25] entgegen, die der Erfahrung von Rassifizierungsprozessen entspricht.

Um zu illustrieren, wie Ahmed diese Phänomenologie der Unterbrechung entwickelt, will ich aus dem überaus instruktiven und reichen Werk ihre Dezentrierung der leibkörperlichen Raumorientierung heranziehen, weil mir scheint, dass sich ihre kritische Erneuerung der Phänomenologie daran gut ausweisen lässt. Das Körperschema, von dem schon die Rede war, ist eingelassen in eine Raumerfahrung bzw. genauer gesagt in eine Räumlichkeit der Wahrnehmungen und der Handlungen überhaupt. Leibkörperlich Existierende sind eben keine Kognitionen in Körpern, so als könnte man diese beiden Dimensionen trennen, sondern affektiv-leibliche Einheiten, für die »hier« nicht eine Koordinate ist, sondern der Punkt, von dem Erfahrungen allererst aus- und auf den sie zurückgehen. In Unterscheidung von einem objektiven physikalischen Raum, der so genannten Positionsräumlichkeit, nennt Merleau-Ponty dies die »Situationsräumlichkeit«[26]. Leibkörper sind in einem Raum situiert, so dass der Raum immer schon dadurch intentionale Bedeutung enthält, als meine Bewegungen (Körperbewegungen im Raum, Greif- und Ausweichbewegungen etc.) durch »intentionale[..] Fäden«[27] mit dem Raum und den Dingen verbunden sind. Jeder Erfahrungsvollzug ist leibkörperlich verräumlicht. Eine Trennung in Zwecksetzungen einerseits und Körperbewegungen andererseits ist eine künstliche und nachträgliche Unterscheidung.

In ihrem wunderbar minutiösen und zugleich explorativen Buch Queer Phenomenology entwickelt Sarah Ahmed aus der Situationsräumlichkeit eine kritische Analyse von Erfahrungen der Dezentrierung. Insofern Leibkörper als Medium fungieren, durch die wir »zur-Welt« sind, setzen sie uns intentional zu den Dingen im Raum in Bezug, indem sie sich wechselseitig gestalten: »Bodies as well as objects take shape through being oriented toward each other, as an orientation that may be experienced as the co-habitation of sharing of space.«[28] Wir bewohnen den Raum gemeinsam mit den Dingen, indem wir uns wechselseitig konstituieren. Dinge sind nicht ohne situierte Leibkörper, Leibkörper sind nicht ohne Bezug auf lokalisierte Dinge. Die Situationsräumlichkeit ist durch Orientierungen geprägt, Linien, die Bedeutung verleihen und Halt geben. Und weil die Horizonte der leibkörperlichen Intentionen nicht transzendental gegeben sind, sondern sich durch wiederholte Performanzen erst erzeugen, führen sie eine soziokulturelle Geschichte mit sich: »sedimented histories«[29].

Die Körper selbst formen sich und werden geformt von den Geschichten dieser Sedimentierungen. Es gibt nicht den Körper, sondern nur Körpergeschichten, so dass sich mit den Geschichten auch gesellschaftliche Verhältnisse in die Körper einschreiben. Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen liegt die metaphorische Verschiebung, die Ahmed vornimmt, auf der Hand. Die »straight lines«, wie Ahmed die orientierenden, handlungs- und wahrnehmungsleitenden Raumordnungen nennt, sind eben nicht nur »gerade«, sondern auch sozio-kulturell normativ aufgeladen. »Straight« dient also als Metapher für »heterosexuell« bzw. »heteronormativ«. Das bedeutet für die »anderen« Körper, die in irgendeinem Sinne nicht der Norm entsprechen, dass ihnen nicht nur – etwa in einem politischen Sinne – Raum streitig gemacht und öffentliche Sichtbarkeit genommen wird. Noch grundsätzlicher versteht Ahmed das Normative als Effekt »of the repetition of bodily actions over time, which produces what we can call the bodily horizon, as space for action, which puts some objects and not others in reach«.[30] Die Normativität des Körperhorizonts bestimmt die Reichweite, in die Dinge geraten. Die soziokulturelle Macht der Normalisierung besteht dann darin, dass die Körper durch Habitualisierung die »lines« zu verkörpern lernen: sie werden »auf Linie gebracht« (»alignement«) »by ›holding‹ things in place«.[31] Gerät ein Ding mit einem anderen aus der Balance (»out of line«), so werden diese »wonky« oder eben »queer« (»schief, schräg, quer«).

Es gibt aber nicht nur »straight lines« im heteronormativen Sinne, sondern ebenso »racial lines«[32], die sich phänomenologisch lesen lassen und deren Erschütterung aus »›race‹ a rather queer matter«[33] machen. Wie der »Orient« als eben nicht geographische Bezeichnung, sondern als diskursiv erzeugte Raumhierarchie »orientiert« im bereits skizzierten Sinne, so ist auch der weiße Raum ein habitualisierter Zusammenhang, der manchen Körpern mehr Raum gibt als anderen. Der weiße Raum präreflexiver Selbstverständlichkeiten ist weniger eine Frage von Hautpigmenten als von differenzierten Formen leibkörperlichen Einwohnens (»inhabit« / »habit«). So beschreibt Ahmed Weißsein als einen Habitus, eine zweite Natur, die verkörpert im Rücken der Akteure liegt. Wie der Blindenstock in Merleau-Pontys berühmten Beispiel zur Inkorporation des Technischen in Körperpraktiken die sensomotorische Reichweite verlängert und Raum öffnet, so sind weiße Körper expandierende Körper.[34] Sie müssen sich um Grenzen nicht scheren. »Whiteness becomes habitual in the sense that white bodies extend their reach by incorporating objects that are within their reach.«[35] Sie inkorporieren, verschlingen die Dinge in ihrer Reichweite und erweitern so die ihre. Indem »weiß« den Raum der Möglichkeiten erweitert, wird der Raum gewissermaßen selbst »weiß«. Kein Wunder, dass sich Weiße darin wohlfühlen. »White bodies are comfortable as they inhabit spaces that extend their shape[36] Die Phänomenologie des »Ich kann« – wie die kanonische Formel Husserls und Merleau-Pontys lautet – ist selbst geradezu eine »phenomenology of whiteness«.[37] Von der »weißen« Phänomenologie zur »Phänomenologie des Weißseins«: Das wäre eine Weise, die kritische Wende zu vollziehen, die an der Zeit ist, und zugleich ein Modus einer politischen Phänomenologie.

Die »phenomenology of ›being stopped‹«, von der bereits die Rede war, also eine Phänomenologie, die Erfahrungen der Unmöglichkeit, des Nicht-Könnens, des Außerhalb-der-Reichweite-seins zu ihrem Ausgangspunkt nimmt, kann daher die selbstgewisse Orientiertheit nicht zur begrifflichen Grundlage machen. Sie muss sich vielmehr einen Reim auf die Unterbrechungen, die Zwischenerfahrungen, die Verunsicherungen machen, die – wie Ahmed mit einer Reflexion auf ihre eigenen »mixed race«-Erfahrungen verdeutlicht – Eindeutigkeiten unterbinden. »[R]eorientation as a mixed orientation: an orientation that unfolds from the gap between reception and possession[38]

Die schrägen Dinge und die queeren Körper dezentrieren den normativen Raum. Eine queere Phänomenologie im Sinne Ahmeds wird geradezu zu einem »disorientation device«.[39] Philosophie bietet also gerade nicht – wie eine geläufige Forderung an ihren gesellschaftlichen Nutzen besagt – »Orientierung«, sondern »Desorientierung«, die erst Voraussetzung kritischer Reflexion und Praxis wäre.

Politisch bedeutet das nun keineswegs – wie sie abschließend andeutet –, Desorientierung bedenkenlos zu feiern oder gar zur aktiven Desorientierung aufzufordern. Das würde die Situiertheit aller Erfahrung erneut mit einer abstrakten verallgemeinerten Forderung entwerten. Und es würde den Schmerz, den das Heraustreten aus den »straight lines« oft erzeugt, selbst zur Norm erheben. Ahmed plädiert vielmehr dafür, Desorientierung als einen Effekt anzusehen »of how we do politics«, die ihrerseits geprägt ist durch »the prior matter of how we live«.[40]


Anmerkungen

[1] Edmund Husserl, Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, mit e. Einf. v. Bernhard Waldenfels, Weinheim 1995, S. 26. Weitere Nachweise mit Angabe der Seitenzahl direkt im Text.

[2] Vgl. dazu in materialreicher Ausführlichkeit bereits Iris Därmann, Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie, München 2005, S. 466ff. Kritisch auch bereits Jacques Derrida, Vom Geist. Heidegger und die Frage, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt/M. 1988, S. 138, Fn. 62 sowie Bernhard Waldenfels, »Europa angesichts des Fremden«, in: ders., Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt/M. 1997, S. 131-144, hier S. 135ff. Achselzuckend bzw. affirmativ hingegen Klaus Held, »Husserls These von der Europäisierung der Menschheit« in: Christoph Jamme u. Otto Pöggeler (Hg.), Phänomenologie im Widerstreit. Zum 50. Todestags Edmund Husserls, Frankfurt/M. 1989, S. 13-39, hier: S. 28f., S. 36f. sowie Ernst-Wolfgang Orth, Edmund Husserls Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Darmstadt 1999, S. 152f.

[3] Vgl. Emmanuel Levinas, »Die Bibel und die Griechen«, übers. v. Pascal Delhom, in: ders., Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, hrsg. v. Pascal Delhom u. Alfred Hirsch, Berlin, Zürich, 2007, S. 151-154.

[4] Vgl. Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. v. Thomas Wiemer, Freiburg, München 1992.

[5] Vgl. Lucien Lévy-Bruhl, Die geistige Welt der Primitiven, Darmstadt 1966 sowie Emmanuel Levinas, »Lévy-Bruhl und die zeitgenössische Philosophie«, in: ders., Zwischen uns, München 1995, S. 229-238.

[6] Vgl. Emmanuel Levinas, De l’unicité, Paris 2018, 43f. Die Herausgeberin Danielle Cohen-Levinas behauptet im Vorwort (»Préface. Nous autre Européens«, S. 7-33), es handele sich um einen unveröffentlichten Text, der auf einen Vortrag von 1985 zurückgehe, wobei eine textidentische Version bereits in der Ausgabe von 1991 von Entre nous erschienen ist. Vgl. ders., Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre, Paris 1991, S. 195-203.

[7] Vgl. John E. Drabinski, »Levinas, Race, Racism«, in: Levinas Studies 7 (2012), S. VII-XX, hier: S. X.

[8] Raoul Mortley, »Emmanuel Levinas«, in: ders., French Philosopher’s in Conversation: Levinas, Schneider, Serres, Irigaray, Le Doeuff, Derrida, London 1991, S. 11-24, hier: S. 18.

[9] John E. Drabinski, Levinas and the Postcolonial. Race, Nation, Other, Edinburgh 2011, S. 7.

[10] Drabinski, Levinas and the Postcolonial, S. 159.

[11] Därmann, Fremde Monde der Vernunft, S. 579.

[12] Robert Bernasconi, »Who is My Neighbor? Who is the Other. Questioning ›the generosity of Western thought‹« [1992], in: Claire Katz (Hg.), Emmanuel Levinas. Critical Assessments of Leading Philosophers, London, New York 2005, S. 5-30, hier: S. 17.

[13] Vgl. Oona Eisenstadt, »Eurocentrism and Colorblindness«, in: Levinas Studies 7 (2012), S. 43-62, hier: S. 49.

[14] Vgl. Michaela Ott, Welches Außen des Denkens? Französische Theorien in (post)kolonialer Kritik, Wien 2018. Im Falle Levinas bietet sich eher eine doppelte Lektüre an, um seine Alteritätstheorie für postkoloniale Interventionen fruchtbar zu machen. Vgl. Robert Eaglestone, »Postcolonial Thought and Levinas’s Double Vision«, in: Peter Atterton u. Mathew Calarco (Hg.), Radicalizing Levinas, Albany 2010, S. 57-68.

[15] Vgl. Gail Weiss, Gayle Salamon u. Ann V. Murphy (Hg.), 50 Concepts for a Critical Phenomenology, Evanston, Il. 2019; Elisa Magri u. Paddy McQueen (Hg.), Critical Phenomenology. An Introduction, Hoboken 2023; Thomas Bedorf u. Steffen Herrmann (Hg.), Political Phenomenology. Experience – Ontology – Episteme, London, New York 2020.

[16] Eine Hinführung zur Phänomenologie rassifizierter Erfahrungen von den Quellen bei Sartre, Fanon und Merleau-Ponty her bietet Helen Ngo, The Habits of Racism. A Phenomenology of Racism and Racialized Embodiment, Lanham u.a. 2017, einen Ausschnitt Thomas Bedorf, »Phänomenologien der Rassifizierung«, in: Irina Gradinari u. Ivo Ritzer (Hg.), Genre und race. Mediale Interdependenzen zwischen Ästhetik und Politik, Wiesbaden 2021, S. 327-344.

[17] Linda Martín Alcoff, Visible Identities. Race, Gender, and the Self, Oxford, New York 2006, S. 179.

[18] Vgl. ebd., S. 183.

[19] Selin Gerlek, Korporalität und Praxis. Revision der Leib-Körper-Differenz in Maurice Merleau-Pontys philosophischem Werk, München 2020, S. 101.

[20] Vgl. Alcoff, Visible Identities, S. 184.

[21] Ebd., S. 185.

[22] Ebd. Angesichts Alcoffs umfassender Phänomenologie rassifizierter Verkörperung unterschlägt die Subsumierung Alcoffs im jüngst erschienenen und ansonsten verdienstvollen Reader Critical Philosophy of Race (Berlin 2021) unter »Metaphysik« und »Ontologie« ihre Beiträge für, in und mit der Phänomenologie, zumal der in die Anthologie aufgenommene Aufsatz sicher nicht zu ihren stärksten gehört.

[23] Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v. Rudolf Boehm, Berlin, New York 1974, S. 125.

[24] Vgl. Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, übers. v. Eva Moldenhauer, Wien 2015, S. 95 sowie Sara Ahmed, »A phenomenology of whiteness«, in: Feminist theory, 8 (2007), Nr. 2, S. 149-168, hier: S. 153.

[25] Ahmed, »A phenomenology of whiteness«, S. 161.

[26] Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 125.

[27] Ebd., S. 131.

[28] Sara Ahmed, Queer phenomenology, Durham, London 2006, S. 54.

[29] Ebd., S. 56.

[30] Ebd., S. 66.

[31] Ebd.

[32] Ebd., S. 112.

[33] Ebd.

[34] Vgl. den Terminus der »ontological expansiveness« bei Sullivan (Shannon Sullivan, Revealing Whiteness. The Unconscious Habits of Racial Privilege, Bloomington, Indianapolis 2006, S. 144).

[35] Ahmed, Queer phenomenology, S. 132.

[36] Ebd., S. 134.

[37] Ebd., S. 138.

[38] Ebd., S. 154.

[39] Ebd., S. 172.

[40] Ebd., S. 177.