Digitalität und Erfahrung: Zu diesem Schwerpunkt

Petra Gehring (Darmstadt), Christian Grüny (Frankfurt am Main/Darmstadt), Martin W. Schnell (Gelsenkirchen)

Der sogenannte digitale Wandel – eine (mit extrem weitreichenden Folgen verbundene) technologisch induzierte Veränderungswelle, die Gesellschaften auf der ganzen Welt erfasst – ist zwar schon eine Weile im Gang. Auch ist er schon seit den 1990er Jahren Gegenstand der Philosophie. Unvergessen sind beispielsweise die spekulativen Arbeiten von Vilém Flusser, die eine Null-Dimensionalität und eine Ersetzung des Textes durch Technobilder vorhersagen. Oder Paul Virilios Beschleunigungsthesen, denen zufolge digitale Darstellungen schon deshalb nichts mehr repräsentieren, weil sie uns in physischer Echtzeit mit einer Realität konfrontieren, die gar keine abgebildete mehr ist, sondern eine des auf neue Weise irritierend unmittelbaren Erlebens. Auch Jean-François Lyotard, der über die »Immaterialien« spekuliert und überhaupt weniger als Theoretiker der »Postmoderne« denn als Theoretiker der digitalen Wissensgesellschaft gelten sollte, nennen wir in diesem Zusammenhang gern.

Zu den großen Thesen gesellten sich die großen Themen – man denke etwa an die vielen Medientheoretiker und Medienphilosophen, die das Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende aufgemischt haben: Friedrich Kittler, Norbert Bolz, Bernhard Siegert, Sybille Krämer, Claus Pias u.a., mehr oder weniger inspiriert durch Jacques Derrida. »Medien« war lange Zeit in Sachen Digitaltechnik überhaupt das Zauberwort. Wie parallel auch »Computer« und Computerphilosophie.

Lange ist das her. Nachdem zwischenzeitlich das »Netz« – meinend das Internet, aber auch überhaupt Vernetzung, die das Digitale schier unendlich zu leisten scheint – zur Leitmetapher des Digitalzeitalters und auch zum Schlüsselbegriff einer Modellierung gleichsam des Wesens des Digitalen avancierte, sind inzwischen wieder andere Stichworte in den Mittelpunkt gerückt: Algorithmen, Algorithmik als Gegenstand der Critical Algorithm Studies und ihr Gegenstück, die Daten. Von »Datenanalytik« als Oberbegriff für Verfahren der Datenauswertung ist die Rede und, was die Theoriebildung anbelangt, von Themen wie Mustererkennung, Datafizierung oder Datensouveränität. Aber vielleicht sollten wir aufpassen, nicht ein weiteres Mal ausschließlich bei der Technik selbst die Anhaltspunkte zu suchen. Denn ist das Digitale nicht viel lebensweltlicher als unsere Rede darüber suggeriert? Sollten wir nicht längst auch von Alltagsmustern, von habitualisiertem Technikvertrauen und Funktionieren sprechen, von einer infrastrukturellen Normalität des Digitalen?

Eben von daher hat sich auch das Bild des »Wandels« langsam erschöpft, weswegen das Wort Digitalisierung inzwischen Staub ansetzt und auch nicht mehr passt. Was ein Vierteljahrhundert bereits geprägt hat, ist nichts mehr, das gerade noch ankommt oder erst dabei wäre, uns zu begegnen. Wir stecken vielmehr schon mitten drin. Daher sprechen wir auch in diesem Schwerpunkt bewusst nicht von Digitalisierung, sondern von »Digitalität«.

Von »Erfahrung« allerdings auch. Denn daran mangelt es: Aufzuschlüsseln, was doch auch sehr abstrakt zu sein scheint und was man nicht so recht ein »Phänomen« nennen mag. Tatsächlich fordert Digitalität die Phänomenologie durchaus auf ähnliche Weise heraus wie philosophische Kardinalthemen: {\sc Zeit. Freiheit. Gemeinschaft}. Auch wenn wir die Sache nicht dramatisieren und nicht dämonisieren wollen: Den Großbefund der digitalen Verfasstheit mit Erfahrung und Erfahrbarkeit zu versehen – und zwar so, dass man nicht sofort entweder bei Ismen landet oder aber im dem persönlichen Erleben verhafteten Klein-Klein versinkt – ist jedenfalls eine schwierige Aufgabe. Und das ruft, gerade wenn bei der Erfahrung zu beginnen und auch wieder anzukommen ist, nach (phänomenologischer) Philosophie.

Im Zentrum unseres Schwerpunktes steht der Eröffnungs- und Hauptbeitrag von Käte Meyer-Drawe (Bochum). Ihr Text, zu dessen Anlass und Situierung sich bei Sophie Loidolt, die den Schwerpunkt abschließend abrundet, einiges findet, hat allen anderen Autorinnen vorgelegen. Alle haben sich in ihren eigenen Beiträgen mehr oder weniger ausdrücklich Anstöße geben und anregen lassen: zu parallelen Erwägungen oder zur Anknüpfung einer eigenen, aber wahlverwandten Perspektive.

Petra Gehring (Darmstadt) geht einigen Besonderheiten der Digitalität nach, auf welche die Philosophie – gerade auch als Phänomenologie – sich hellwach einstellen sollte; Martin W. Schnell (Gelsenkirchen) nimmt die Roboter in den Blick, an deren Alterität das Humane aber ausbleibt; Lukas Nehlsen (Witten/Dresden) skizziert einen phänomenologischen Zugang zu »KI«; Renate Buschmann (Witten/Herdecke) geht Aspekten der digitalen Transformation von Museums-Sammlungen nach und unterstreicht das, damit verbunden, neu Erfahrbare; Christian Grüny (Frankfurt am Main/Darmstadt) bringt »Unruhe« zum Ausdruck – angesichts von Digitalität, aber auch allzu kulturpessimistischen Reaktionen auf eben diese –, und Sophie Loidolt (Darmstadt) reflektiert darauf, wohin uns die Medienbrüche, die die Pandemie mit sich brachte, katapultiert hat. Die vier Seiten eines digitalen Schreibgeräts, auf welchem dieser Schwerpunkt geschrieben und redigiert worden ist, ergeben schließlich einen nonverbalen Kommentar.